Noch am Mittag schien die Welt in Ordnung zu sein in Kirsehir, einer verschlafenen Kleinstadt genau in der Mitte der Türkei. In der Schulstraße betrachten Mütter die bunten Kinder-Rucksäcke, die von der Buchhandlung zum Schulbeginn angeboten werden. Aus einer Imbissbude duftet es nach Fleischbällchen, die Konditorei daneben präsentiert ihre Kuchen. Doch kurz vor Sonnenuntergang bricht in Kirsehir wie in hunderten Orten der Türkei das dünne Eis ein, auf dem der türkische Gesellschaftsfrieden gebaut war. Jetzt ist nichts mehr in Ordnung in Kirsehir und der Türkei. Und die Buchhandlung gibt es nicht mehr.
Um 19 Uhr beginnt zeitgleich in allen 81 Provinzen der Türkei die Nacht des Schreckens, die das deutsche Wort „Kristallnacht“ im türkischen Wortschatz verankert. Für diese Uhrzeit hat der Jugendverband der Nationalistenpartei MHP zu landesweiten Protesten gegen die Anschläge der kurdischen Rebellenorganisation PKK aufgerufen, denen in den letzten drei Tagen mindestens 30 Polizisten und Soldaten zum Opfer gefallen sind.
In Kirsehir beginnen die Proteste mit einem Sturm von 4000 wütenden Menschen auf das Kreisbüro der Kurdenpartei HDP, die mit der PKK liiert ist. „Nieder mit der PKK“, skandieren die fahnenschwenkenden Demonstranten, begleitet von einem hupenden Autokonvoi. Rasch hat die Menge das Gebäude gestürmt, das Schild mit dem Parteiemblem zertrümmert und eine riesige türkische Fahne aufgehängt – zu rasch, um den aufgestauten Hass der Randalierer zu befriedigen. Einen Augenblick hält der Mob inne – dann dreht er sich um und greift die Geschäfte auf der anderen Straßenseite an.
Kurdische Geschäfte seien das, ruft jemand, und da gibt es kein Halten mehr. Klirrend zerbersten die Scheiben der Buchhandlung, die bunten Kinder-Rucksäcke landen auf der Straße – dann fliegen Brandsätze in den Laden, in dem Buchhändler Sait Akilli mit zwei Mitarbeitern und seinem Onkel ausharrt. Von den auflodernden Flammen hinaus gezwungen, werden die Männer draußen vom tobenden Mob erwartet, der mit Knüppeln und Hacken auf sie einschlägt.
Mit gebrochener Nase und einer Platzwunde am Kopf entkommt Akilli, seinem Onkel werden die Rippen gebrochen. Die Opfer schleppen sich zum Krankenhaus, während die zweistöckige Buchhandlung ausbrennt. Der Mob wendet sich inzwischen den nächsten Geschäften zu und brennt Konditorei, Imbissbude und eine Boutique nieder, bevor er die Fahnen einrollt und sich zufrieden davonmacht.
Eine typische türkische Kleinstadt bleibt Kirsehir damit auch weiterhin, denn überall in der Türkei spielen sich in der Nacht solche und ähnliche Szenen ab. „Wohl dem, der wahrer Türke ist“ und „Rache, Rache“ skandieren hunderttausende nationalistische Demonstranten bei Fackelzügen, Protestmärschen und Autokonvois in dutzenden türkischen Städten. In mehr als 400 Orten werden die Büros der Kurdenpartei angegriffen, geplündert oder niedergebrannt – sogar in der Hauptstadt Ankara, wo vier Verkehrspolizisten ungerührt zusehen, wie der Mob den Sitz der drittstärksten Partei im türkischen Parlament anzündet.
Rassistische Angriffe eskalieren schon seit Tagen in der Türkei – seit die PKK mit tonnenschweren Sprengfallen mehrere Wagen voller türkischer Polizisten und Soldaten in die Luft gejagt hat und sich triumphierend damit brüstet. In Istanbul wird ein junger Kurde von türkischen Nationalisten erstochen, weil er vor ihrem Kaffeehaus auf Kurdisch telefoniert. In der Ägäis-Provinz Mugla wird ein Kurde von einem Lynch-Mob gezwungen, die Atatürk-Büste auf dem Marktplatz zu küssen.
In dieser schrecklichen türkischen „Kristallnacht“ marschieren nun tausende fahnenschwingende Jugendliche mit Fackeln durch Istanbul und grölen: „Uns reicht kein Militärangriff (auf die PKK), wir fordern ein Massaker!“
Zum Ziel wird in dieser Nacht auch wieder die Presse – oder das, was in der Türkei noch davon übrig ist. Die regierungskritische Zeitung „Hürriyet „ wird von aufgebrachten Anhängern der Regierungspartei AKP belagert, die ihr vorwerfen, die HDP hochzuschreiben. Auch die regierungsnahe Zeitung „Sabah“ bekommt nächtlichen Besuch von Demonstranten, wird von der Bereitschaftspolizei aber effizient abgeschirmt. Im ebenfalls regierungsnahen Blatt „Star“ arbeitet ein Kolumnist inzwischen an einer Todesdrohung gegen einen Kollegen – den Hürriyet-Kolumnisten Ahmet Hakan –, die am Morgen auch prompt im Blatt steht, garniert mit der Bemerkung: „Wir können dich zerquetschen wie eine Fliege.“
Noch vor wenigen Monaten herrschte in der Türkei die Hoffnung auf ein Ende des Kurdenkonflikts, doch nun ist davon nichts mehr übrig. Einen Großteil der Verantwortung dafür sehen viele Türken bei Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der vor den Parlamentsneuwahlen am 1. November den Druck auf die HDP erhöhen will, um damit seiner eigenen Partei AKP mehr Wähler zuzutreiben. Sollte die HDP unter die Zehn-Prozent-Hürde fallen, würde die Zahl der AKP-Sitze im Parlament erheblich steigen. Erdogan bezeichnet die HDP regelmäßig als verlängerten Arm der PKK-Rebellen.
Doch alles auf den Präsidenten zu schieben, wäre zu einfach. Die Hardliner in der PKK haben mit dem Neubeginn ihrer Angriffe im Juli die Spirale der Gewalt überhaupt erst in Gang gesetzt, und sie ignorieren den Ruf der legalen Kurdenpartei HDP nach einem neuen Waffenstillstand. „Es ist nicht die Aufgabe der HDP, uns einen Waffenstillstand nahezulegen“, erwiderte PKK-Kommandeur Cemil Bayik den Appell von Parteichef Demirtas. Am Morgen nach der „Kristallnacht“ ruft auch Demirtas seine Anhänger zur Gegengewalt auf. Rechtsnationalisten würden ab jetzt ihr blaues Wunder erleben: „Ihre Mütter werden es bereuen, sie zur Welt gebracht zu haben.“
Immer schneller dreht sich der Strudel, in dem die Türkei unterzugehen droht. Bei Straßenkämpfen in der kurdischen Stadt Cizre starben in den vergangenen Tagen mindestens sechs Zivilisten – darunter ein kleines Mädchen, deren Familie ihre Leiche in den Kühlschrank packen musste, weil alle Straßen aus der Stadt gesperrt waren. Insgesamt wurden dem Konflikt in den letzten acht Wochen mehr als 250 Menschen geopfert.
In der Millionenstadt Diyarbakir stranden tausende Passagiere, weil alle Reisebus-Verbindungen in den Westen des Landes gekappt sind. Da Fahrzeuge mit den Kennzeichen der kurdischen Provinzen seit Tagen mit Steinen beworfen werden, wenn sie im Westen der Türkei auftauchen, haben die Busfirmen den Verkehr eingestellt.
„Dieser Weg führt geradewegs zur Hölle“, schreibt der angesehene Kommentator Hasan Cemal inzwischen in einem Brandbrief, den er an Staatspräsident Erdogan, PKK-Chef Abdullah Öcalan und das PKK-Hauptquartier im Nordirak richtet. „Um Gottes willen, wann kommen wir zur Besinnung?“ Am Tag nach der türkischen „Kristallnacht“ weiß niemand eine Antwort darauf.