Flüchtlingskrise, Griechenland – die EU hat aktuell genug Probleme. Doch in den kommenden Wochen wird noch eine weitere Baustelle hinzukommen: die Forderungen Großbritanniens zur Reform der Gemeinschaft, begleitet von der unverhüllten Drohung, bei Nichterfüllung aus der Union auszuscheiden. Spätestens in der kommenden Woche, so bestätigten am Mittwoch EU-Diplomaten, erwarte man ein entsprechendes Schreiben von Premierminister David Cameron an Ratspräsident Donald Tusk, der das Papier beim EU-Gipfel Mitte Dezember zur Diskussion stellen soll. Doch Beobachter rechnen nicht mit einer konkreten Liste, sondern eher mit einem jener Briefe des Regierungschefs, die er auch in der Vergangenheit bereits an seine Kolleginnen und Kollegen in den übrigen 27 Regierungshauptstädten schickte. Sie enthielten meist abgehobene Ausführungen über die Zukunft der EU, die ein hochrangiges Mitglied der Kommission auch schon mal als „Philosophie ohne konkreten Inhalt“ bezeichnete.
Spätestens 2017 hat Cameron seinen Landsleuten eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft versprochen, die im schlechtesten Fall zu einem Austritt des Königreiches aus der Union führen könnte („Brexit“ = Britain Exit“). Zwar nehmen die Studien, Gutachten und Appelle der britischen Wirtschaft und Finanzwelt für einen Verbleib der Insel in der EU-Familie fast täglich zu und auch der Premier selbst ließ mehrfach durchblicken, dass er selbst gerne im Verbund mit den europäischen Partnern bleiben würde. Aber in London stellt man sich dabei eben eine andere EU vor, die Schatzkanzler George Osborne so beschreibt: „Eine immer enger werdende Union ist für uns einfach nicht mehr richtig.“ Cameron erwartet deshalb Reformen und Reformzusagen, um dann die Einwohner des Vereinigten Königreiches aufzufordern, für diese neue Gemeinschaft zu stimmen. Vorgespräche dazu laufen schon seit Wochen.
Vier Bereiche haben sich herauskristallisiert: Zum einen sollen Nicht-Euro-Staaten wie Großbritannien nicht unter Entscheidungen des Euroraums leiden, bei denen sie nicht mitreden können – wie beispielsweise durch die Einführung der Bankenunion. Zum Zweiten will man Einwanderern Sozialleistungen bis zu vier Jahre versagen dürfen – auch wenn sie Arbeit haben. Bisher muss ein Staat nur in den ersten drei Monaten nicht zahlen. Drittens fordert London in Wettbewerbsfragen keine zentralisierte Machtfülle Brüssels, und außerdem erwartet das Vereinigte Königreich eine zusätzliche Garantie seiner nationalen Souveränität. Die nationalen Parlamente will Cameron aufwerten. Brüssel soll nicht stärker, sondern schwächer werden. Damit aber läuft man den Plänen Deutschlands, Frankreichs und anderer Länder vor allem der Euro-Familie zuwider, die fleißig an einer Vertiefung der Währungsunion bauen. Das fürchtet London, das in steter Furcht um den Verlust seines Finanzplatzes lebt.
Dass die Latte hoch liegt, hat Osborne in dieser Woche bei einem Auftritt in Berlin deutlich gemacht, als er zwischen den Zeilen durchblicken ließ, man werde sich nicht mit bloßen Zusagen abspeisen lassen, sondern erwarte konkrete Instrumente wie eine „Notbremse“ für europäische Entscheidungen. Gemeint sind Änderungen im Lissabonner Vertrag. Genau das wollen Brüssel und Berlin möglichst vermeiden, weil zum einen ein solcher Prozess vor dem Referendum nicht abgeschlossen werden könnte. Zum anderen herrscht die Angst vor, dass auch andere Länder in Versuchung kommen könnten, Nachforderungen zu formulieren, wenn man das Vertragspaket ohnehin schon aufschnürt. Doch Cameron scheint nicht mehr alleine zu stehen. In der Vorwoche habe er, so wird in Brüssel kolportiert, die Regierungschefs der Nicht-Euro-Mitglieder angesprochen und sei auf „deutliche Zustimmung“ gestoßen.