
Sie schwenken die ukrainische Staatsflagge, halten Plakate mit der Aufschrift „Wir sind Europa“ in die Höhe und skandieren „Tod den Feinden“. Etwa 10 000 Menschen sind an diesem grauen Februartag im Zentrum von Kiew zusammengekommen. Sie ehren ein Jahr nach den prowestlichen Massenprotesten auf dem Maidan (Unabhängigkeitsplatz) die damals getöteten Demonstranten. Und sie schreien ihren Schmerz über den Krieg im Osten des Landes heraus.
Neben Bundespräsident Joachim Gauck und dem EU-Ratsvorsitzenden Donald Tusk sind zahlreiche Staats- und Regierungschefs nach Kiew gereist. Rund 4000 Polizeikräfte, teils in Tarnuniform, sichern den „Marsch der Würde“. Doch es herrscht eine ruhige Atmosphäre. Menschen aller Glaubensrichtungen sind gekommen, aller Gesellschaftsschichten und aller Altersgruppen.
Nachdem die ukrainische Führung die Unterzeichnung eines Partnerschaftsabkommens mit der EU abgelehnt hatte, demonstrierten vor einem Jahr Tausende gegen eine Annäherung an Russland. Am Ende schlug der winterliche Widerstand in Gewalt um, Dutzende Regierungsgegner wurden von Scharfschützen im überhitzten Fieber der Proteste getötet. Das Blutbad ist auch ein Jahr später nicht völlig aufgeklärt.
„Ehre den Helden“
„Ruhm der Ukraine – Ehre den Helden“ schallt es über die Straße, als die Menge den Maidan erreicht. Gauck und sein ukrainischer Amtskollege Petro Poroschenko haken sich unter. Und auch die oft zerstrittene ukrainische Politprominenz demonstriert Einigkeit. Der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko marschiert unweit der früheren Regierungschefin Julia Timoschenko, etwas abseits geht Ministerpräsident Arseni Jazenjuk. Mit roten Windlichtern stehen sie nun unter der 62 Meter hohen Unabhängigkeitsstatue, auf deren Spitze eine vergoldete Frauenfigur steht.
Vor einem aus Windlichtern errichteten, riesigen Dreizack – dem Symbol ukrainischer Staatlichkeit – geht Poroschenko in die Knie und bekreuzigt sich. „Der Unabhängigkeitsplatz ist ein sakraler, heiliger Ort für jeden Ukrainer“, sagt auch der Maidan-Aktivist und Ex-Kulturminister Jewgeni Nischtschuk.
Es geht um mehr als um ein Gedenken. Bei dem „Marsch der Würde“ soll auch die nationale Einheit, das Zusammenrücken in der größten Krise des Landes seit Beginn der Unabhängigkeit 1991 manifestiert werden. Mehr als 100 Menschen starben bei den Protesten, die Halbinsel Krim ist von Russland einverleibt, und im Osten starben im Kampf mit moskautreuen Separatisten bereits mehr als 5000 Menschen. Das ist die eine Seite – der zweite Aspekt ist für viele der demokratische Aufbruch der krisengeschüttelten Ex-Sowjetrepublik.
Abzug schwerer Waffen
Überschattet wurde das Gedenken von einem Bombenanschlag mit mindestens zwei Toten in Charkow. Der mit Nägeln gefüllte Sprengsatz detonierte am Sonntag bei einer Kundgebung regierungstreuer Kräfte. Regierungseinheiten und prorussische Aufständische im umkämpften Osten des Landes einigten sich unterdessen schriftlich auf den Abzug schwerer Waffen. Bereits am Samstag hatten beide Seiten mit dem Austausch von insgesamt 200 Gefangenen Hoffnungen auf eine leichte Entspannung der Lage geweckt.