Es ist exakt 16.44 Uhr, als lauter Beifall aus dem Sitzungssaal der Unionsfraktion in der dritten Ebene des Reichstagsgebäudes direkt unterhalb der Kuppel nach draußen dringt. Aber wem gilt der Applaus?
Amtsinhaber Volker Kauder, der bereits seit 13 Jahren an der Spitze der Unionsfraktion steht und dies noch drei weitere Jahre tun will? Oder seinem fast 20 Jahre jüngeren bisherigen Stellvertreter Ralph Brinkhaus, der sich selbst zum Herausforderer ausgerufen und völlig überraschend eine Mehrheit unter den Abgeordneten von CDU und CSU gefunden hat?
Wenige Sekunden später ist das Geheimnis gelüftet, macht das mit Spannung erwartete Ergebnis die Runde unter den wartenden Journalisten.
Es ist eine faustdicke Überraschung, gleichzeitig eine schwere Niederlage für das gesamte Partei-Establishment von CDU und CSU, für Bundeskanzlerin Angela Merkel wie CSU-Chef Horst Seehofer, die sich bis zuletzt hinter den Kulissen wie vor der Fraktion für den Amtsinhaber stark gemacht haben: Volker Kauder hat verloren, wurde in geheimer Wahl abgewählt.
Merkels Worte verpuffen
Knapp, aber dennoch klar unterliegt der Tuttlinger dem Gütersloher. 125 Stimmen entfallen auf Brinkhaus, nur 112 auf Kauder, zwei Abgeordnete enthalten sich der Stimme. Nicht einmal seine Befürworter, die nach der schweren Koalitionskrise wegen der Causa Maaßen in den letzten Tagen an Gewicht gewonnen haben, haben mit einem derart klaren Ergebnis gerechnet. Bis zuletzt lauteten die Prognosen 50:50, das Kauder-Lager verbreitete sogar demonstrative Zuversicht und prognostizierte ein 70:30 für den Amtsinhaber.
Kauder hilft es auch nicht, dass Angela Merkel sich vor der gesamten Fraktion demonstrativ auf seine Seite stellt und mit dem ganzen Gewicht ihres Amtes um die Unterstützung für ihren langjährigen Vertrauten wirbt. „In der Abwägung zwischen Erfahrung und Erneuerung habe ich mich für die Erfahrung entschieden“, sagt sie nach Angaben von Teilnehmern. Dies sei ein „Signal von Stabilität“, eine Abwahl Kauders käme gerade mit Blick auf die jüngsten Verwerfungen zum falschen Zeitpunkt.
CSU-Chef Horst Seehofer schließt sich in seinem kurzen Statement den Argumenten der Kanzlerin an und würdigt die „gute Zusammenarbeit“ mit Kauder, auf ihn sei stets „Verlass“.
Doch die Worte der beiden Parteichefs verpuffen und verfehlen ihre Wirkung. Die Fraktion will sich nicht mehr von oben vorschreiben lassen, was sie tun soll und was nicht. Zudem verstärken, wie mehrere Abgeordnete übereinstimmend sagen, auch die Bewerbungsreden von Brinkhaus und Kauder den Stimmungsumschwung in letzter Minute.
Brinkhaus habe die Argumente Merkels aufgenommen und ins Gegenteil verdreht, habe ausdrücklich für den Neuanfang und den Aufbruch geworben und an das Selbstbewusstsein der Abgeordneten appelliert. In der Fraktion würden „viele Potenziale brachliegen“, den gravierenden Vertrauensverlust der letzten Tage und Wochen könne man nicht mit Ruhe und einem Weiter so wettmachen: So übt er deutliche Kritik am bisherigen Führungsstil Kauders.
Kauder dagegen bleibt blass und kann nicht überzeugen. „Er hat es nicht geschafft, den Nerv der Fraktion zu treffen“, sagt ein führendes Fraktionsmitglied.
Angela Merkel bleibt nichts übrig, als nach der Wahl von Brinkhaus die Niederlage einzuräumen. „Das ist eine Stunde der Demokratie, in der gibt es auch Niederlagen, und da gibt es auch nichts zu beschönigen“, sagt sie in einer kurzen Stellungnahme. Da sie möchte, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion „erfolgreich weiterarbeitet“, werde sie Brinkhaus, „wo immer ich das kann, auch unterstützen“.
Auch für CSU-Chef Horst Seehofer kommt die Abwahl von Kauder überraschend. Das Ergebnis sei zu respektieren, sagt er hinterher kurz angebunden. Und auf die Frage, ob die Parteiführung die Stimmung in der Fraktion falsch eingeschätzt habe, antwortet er, man müsse jetzt mit den Abgeordneten reden.
Allen Beteiligten ist klar, dass an diesem Nachmittag im September mehr passiert ist als nur ein Wechsel an der Spitze der Fraktion. Von einer „Revolte“ gegen Merkel, einem „Erdbeben“ ist in Berlin die Rede, von „Merkel-Dämmerung“, vom „Anfang vom Ende der Ära Merkel“. Die Fraktion begehrt auf, emanzipiert sich.
Bei der Wahl zwischen Kontinuität und Erneuerung habe sich eine Mehrheit der Abgeordneten für die Erneuerung entschieden, sagt der stellvertretende Fraktionschef Georg Nüßlein (CSU). „Die Fraktion holt mühsam nach, was an personeller Erneuerung nach der Bundestagswahl versäumt wurde.“ Das tue ihm zwar leid für Volker Kauder, der in schwieriger Zeit die Fraktion zusammengehalten habe, andererseits sei aber der neue Mann an der Spitze der Fraktion „ein echter Hoffnungsträger für die Union“, blickt der Schwabe bereits in die Zukunft.
Sein Kollege Ulrich Lange, ebenfalls stellvertretender Fraktionschef, nennt die Wahl von Brinkhaus ein „positives Signal“ und eine „Chance für einen Aufbruch“. Brinkhaus habe „ein neues Wir-Gefühl in der Fraktion geschaffen.“ Das müsse für die Koalition kein Nachteil sein. „Eine starke Fraktion stärkt auch die Bundesregierung.“ Der Vorsitzende der CDU-Landesgruppe Baden-Württemberg, der Konstanzer Andreas Jung, sagt dagegen, das Ergebnis sei „bitter für Volker Kauder und damit auch ein Schlag für unsere Landesgruppe“.
Reaktionen auf den Überraschungssieg für Brinkhaus
„Das ist ein Aufstand gegen Merkel.“ Thomas Oppermann (SPD) „Die Merkeldämmerung hat endgültig eingesetzt.“ AfD-Fraktionschefin Alice Weidel „Herzlichen Glückwunsch zur Wahl, @rbrinkhaus. Danke an Volker #Kauder für die Zusammenarbeit“ Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt
„Das ist der Anfang vom Ende der GroKo. Die Autorität der Kanzlerin in ihrer eigenen Fraktion ist offiziell zerstört.“ FDP-Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff
„Die @cducsubt entgleitet der Bundeskanzlerin.“ Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Marco Buschmann „Das ist ein Signal der Erneuerung. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Herrn Brinkhaus.“ Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander dpa