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London
Überlebenspakete für den Brexit-Notfall
Bei einem No-Deal-Brexit könnten sogar Lebensmittel und Medikamente knapp werden. Sogenannte Preppers wollen darauf vorbereitet sein und horten deshalb Lebensmittel.
James Blake steht neben gestapelten Brexit-Notfall-Kisten. Eine Box enthält über 100 Mahlzeiten und einen Wasseraufbereiter, wie Blake berichtet.
Foto: Privat/James Blake, dpa | James Blake steht neben gestapelten Brexit-Notfall-Kisten. Eine Box enthält über 100 Mahlzeiten und einen Wasseraufbereiter, wie Blake berichtet.
Bearbeitet von Katrin Pribyl
 |  aktualisiert: 23.02.2019 02:39 Uhr

Begonnen hat die ganze Geschichte irgendwie als Spaß. Nur, mittlerweile hat dieser Spaß das gesamte Wohnzimmer der Familie Tingey übernommen. Braune Kartons stehen in dem holzgetäfelten Raum des Hauses im englischen Bishop’s Stortford herum, Klebebänder und Etiketten verteilen sich auf den Stühlen, die als Ablagen dienen. Unter einem großen Spiegel türmen sich in einem Regal wie in einem Tante-Emma-Laden die Keks- und Müslipackungen; Nudeln und Reis stapeln sich genauso wie Dosen voller Bohnen, eingelegten Früchten und Thunfisch.

Hester Tingey schnappt sich eine Packung Kaffee aus dem Regal, passierte Tomaten sowie fünf Sardinen-Dosen und packt die Lebensmittel in eine große Box, die vor ihr auf einem großen Holztisch steht und jetzt schon fast überquillt. „Wir wollen nicht, dass den Menschen nach dem Brexit elend zumute ist, sondern dass sie glücklich sind“, sagt die 52-Jährige und zeigt auf Schokoriegel, die ebenfalls in die Box gehören.

100 Pfund kostet die Ration für eine Woche

Es ist der Klassiker des Angebots: das Brexit-Überlebenspaket. 100 Pfund kostet die Ration, die zwei Erwachsene und zwei Kinder eine Woche ernähren können. Und sie soll vor allem jenen Teil der Briten beruhigen, die sich „Preppers“ nennen – Menschen, die für die schlimmsten Szenarien vorbereitet sein wollen. Sie machen nur eine Minderheit auf der Insel aus, blicken aber voller Sorge auf den 29. März 2019. Dann tritt das Königreich offiziell aus der EU aus. Und auch wenige Wochen vor der Scheidung stößt der von London und Brüssel ausgehandelte Deal auf massiven Widerstand im Parlament.

Premierministerin Theresa May scheint auf Zeit zu spielen, während bei vielen Briten die Unruhe wächst. Kommt es tatsächlich zu einem chaotischen Austritt ohne Abkommen? Die Behörden gehen davon aus, dass die Kontrolle der Lastwagen zu langen Verzögerungen am wichtigsten Fährhafen in Dover führen könnten, die wohl vor allem kurzfristig Engpässe in Apotheken und Supermärkten entstehen lassen würden. Ein Drittel der Produkte stamme aus der EU, weshalb bei einem ungeordneten Ausscheiden des Landes die Verfügbarkeit vieler Waren verringert sein werde, warnten kürzlich die Chefs führender Supermärkte und Restaurantketten.

Angebote für Veganer

„Es schadet nicht, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.“ So fasst es Hester Tingey zusammen. Die Idee, sogenannte „survival packs“ anzubieten, hatte ihr Mann Fred. Es überrascht kaum, dass der 52-Jährige früher im Risikomanagement tätig war, vor 15 Jahren sogar mit einem Branchen-Preis dafür ausgezeichnet wurde. Mittlerweile offerieren er und seine Frau neben dem Klassiker eine Box für Veganer, für Hunde, für Katzen, eine Kiste mit Überlebensutensilien wie Streichhölzern, Aluminiumdecken oder Batterien sowie das sogenannte Geschenkpaket, das aus Lebensmitteln aus Europa besteht, „die nach dem Brexit vielleicht schwerer erhältlich sind“, sagt Tingey. Deutsches Brot, französischer Wein, italienischer Kaffee – ganz offensichtlich die Gourmetversion.

In der Küche nebenan sitzt die 24-jährige Tochter Tabby. Ihre persönlichen Überlebenspakete lagert sie in Form einer Monatsration Insulin im Kühlschrank. Die Yoga-Lehrerin hat Diabetes Typ 1, ihre Medikamente werden aus Deutschland importiert. Sie sei beunruhigt, sagt Tabby Tingey, „auch wenn man denken müsste, dass eine Knappheit überhaupt keine Option ist“. Sie halte einen leichten Überschuss der Präparate als Vorrat, aber nur unbeabsichtigt, weil die junge Frau durch ihre Essgewohnheiten etwas weniger Insulin braucht als sie verschrieben bekommt.

Auch Medikamente werden gehortet

Obwohl das britische Gesundheitsministerium seit Monaten versucht, Betroffene zu besänftigen und Hamsterkäufe zu verhindern, horten zunehmend Briten ihre Medikamente. Die Regierung habe große Anstrengungen unternommen und „einiges an Steuergeldern investiert“, damit die Menschen an ihre Arzneimittel kämen, betonte Gesundheitsminister Matt Hancock. Dennoch, der Medizinerverband Royal College of Physicians (RCP) fordert mehr Transparenz bei den Notfallplänen der Regierung. Im Moment sei es nicht möglich, „Patienten zu versichern, dass ihre Versorgung durch den EU-Austritt nicht negativ beeinflusst wird“, kritisiert Andrew Goddard, Präsident des RCP in London. Es gebe „erhebliche Bedenken“. Auch der Verband britischer Diabetiker schlägt Alarm. Die Regierung müsse dringend die erforderlichen Details vorlegen, um die Öffentlichkeit zu versichern, dass bei einem No-Deal-Brexit Systeme und Vereinbarungen greifen, die die Versorgung gewährleisten, so Chris Askew, Chef von Diabetes UK.

Seit drei Wochen packen die Tingeys in ihrer Freizeit mit Hilfe der Familie, von Freunden und Freiwilligen die Lebensmittelboxen. „Das Interesse geht durch die Decke“, so Hester Tingey. Doch auch die negativen, teils hasserfüllten Reaktionen nehmen zu. Insbesondere in den Sozialen Medien werfen ihnen Kritiker Panikmache vor und dass sie mit den Ängste anderer Profit machen würden. „Dabei wollen wir nur helfen“, sagt Tingey.

Auch Geld verdienten sie aufgrund der hohen Portokosten nicht. Anders sieht das bei James Blake aus, dessen Firma „Emergency Food Storage“ ebenfalls „Brexit-Boxen“ anbietet, in der sich nicht nur gefriergetrocknete Lebensmittel befinden, sondern auch ein Wasserfilter und ein Brandbeschleuniger. Mehr als 600 solcher Pakete zu umgerechnet rund 330 Euro hat er vom Produktstart im Dezember bis Mitte Januar bereits verkauft. „Brexit könnte sich potenziell zu einer Notsituation entwickeln“, so Blake. „Wir sagen schlichtweg zu den Leuten: Seid ein bisschen vorbereitet.“

 
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