Nach dem Anschlag eines islamistischen Extremisten auf den „Reina“-Nachtclub in Istanbul macht sich bei vielen Türken angesichts der nicht enden wollenden Gewaltwelle Verzweiflung breit. „Überleben ist reine Glücksache“, meinte ein Istanbuler Musiker am Montag. Ein Finanzmanager sagte, er fühle sich durch die Ereignisse in seinem Vorhaben bestärkt, die Türkei zu verlassen: „Ich kann es nicht erwarten rauszukommen“, sagte der Familienvater.
Schon vor dem Bekenntnis des Islamischen Staates (IS) zu der Gewalttat im „Reina“ waren die meisten Türken davon ausgegangen, dass der IS dieses jüngste Massaker auf dem Gewissen hat. Laut Medienberichten verschoss der Täter mehrere Magazine mit jeweils 30 Patronen aus seinem Schnellfeuergewehr auf die wehrlosen Gäste des Nachtclubs. Dann warf er seine Waffe weg, zog seinen Mantel aus und machte sich im Chaos nach den Schüssen aus dem Staub.
Trotz einer Großfahndung und der Festnahme von acht mutmaßlichen Komplizen wurde der Angreifer bis zum Montag nicht gefasst. Der Verdacht konzentriere sich auf einen Mann aus Kirgisien oder Usbekistan, meldeten mehrere Medien. Die Online-Ausgabe der Zeitung „Hürriyet“ berichtete, die Polizei gehe einem Hinweis nach, wonach der Gesuchte in der Hafenstadt Yalova am Marmarameer, rund 100 Kilometer südlich von Istanbul, gesichtet wurde.
In der Bekennererklärung des IS zu dem Anschlag hieß es, der Attentäter habe Christen treffen wollen, die in dem Club ihr unislamisches Neujahrsfest gefeiert hätten. Nicht zu letzt deshalb verstärken türkische Regierungsgegner ihre Kritik an einer nach ihrer Meinung zunehmenden Tendenz des Staates, religiöser Intoleranz Vorschub zu leisten.
Ein Zusammenschluss säkularistischer Gruppen reichte Klage wegen Volksverhetzung gegen das staatliche Religionsamt ein: In einer Musterpredigt der Behörde am Tag vor dem Anschlag waren die türkischen Muslime vor Neujahrsfeiern gewarnt worden, weil diese „mit unseren Werten nicht konform“ seien.
Mithat Sancar, ein angesehener Staatsrechtler und Parlamentsabgeordneter der legalen Kurdenpartei HDP, sprach in der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ von einer Allgegenwart von „Diskriminierungs- und Hassparolen“ in der Türkei. Dagegen werde nichts unternommen – doch gleichzeitig kämen Journalisten wegen einer einzigen kritischen Twitter-Erklärung ins Gefängnis.
Tatsächlich wird nach dem Anschlag in sozialen Medien der Türkei mitunter Sympathie für den „Reina“-Attentäter geäußert, während die Opfer verhöhnt werden. „Euer Weihnachtsmann bringt wohl nicht nur Geschenke, wie?“, schrieb ein Twitter-Nutzer und Fußball-Schiedsrichter namens Süleyman Belli nach dem Anschlag. Der türkische Fußballverband leitete eine Untersuchung gegen Belli ein.
Nach dem Tod von zwölf deutschen Touristen bei dem IS-Anschlag in der Istanbuler Altstadt vor einem Jahr, einem weiteren IS-Selbstmordattentat an einer Istanbuler Einkaufsstraße im März und dem IS-Anschlag auf den Istanbuler Flughafen im Juni war die Bluttat im „Reina“ die vierte schwere Gewalttat der Extremisten in der türkischen Metropole binnen eines Jahres.
Mehrere Medien meldeten, weitere IS-Angriffe seien zu befürchten. Die Terroristen hätten Bilder veröffentlicht, auf denen bewaffnete Kämpfer vor der Istanbuler Universität und einer der drei Bosporusbrücken zu sehen seien.
Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdogan sehen die Gefahr für die Türkei allerdings nicht beim IS, sondern im Westen. Regierungsnahe Zeitungen werteten den Anschlag im „Reina“ als Teil eines Plans ausländischer Akteure, um die Türkei auf die Knie zu zwingen. „Der Hauptverdächtige ist Amerika“, titelte die islamistische Zeitung „Yeni Akit“. Auch das Erdogan-treue Blatt „Takvim“ beschuldigte „ausländische Kreise, die die Türkei nicht aufhalten können“.
Verstärkt wurde das Misstrauen dieser Kreise gegen den Westen durch Berichte, wonach westliche Geheimdienste von Plänen für Anschläge in der Türkei zu Neujahr gewusst haben sollen. Der für seine guten Kontakte zur Regierung bekannte „Hürriyet“-Kolumnist Abdulkadir Selvi schrieb, die USA hätten am Tag vor dem Anschlag eine allgemein gehaltene Warnung verbreitet.