Bernie Sanders kämpft, der Parteitag droht zu entgleiten. „Ich weiß, dass viele hier in der Halle und im Land enttäuscht sind“, ruft er in die brodelnde Wells Fargo Arena. „Ich denke, man kann sagen, dass niemand mehr enttäuscht ist als ich!“ Der Senator versucht ein Lächeln, aber in der randvollen Halle fließen bei vielen Menschen die Tränen. Der Zweite im Rennen um die demokratische Präsidentschaftskandidatur hat fünf Minuten gebraucht, um sich überhaupt Gehör zu verschaffen durch die verzweifelten Liebesbekundungen seiner Fans. „Nicht zum Verkauf!“, rufen manche selbst jetzt noch, und: „Es ist nicht vorbei!“ Doch vorbei ist es für Sanders Kampagne hier beim Nominierungskonvent der Demokraten in Philadelphia, und das weiß niemand besser als er.
„Jeder objektive Beobachter wird zu dem Schluss kommen, dass Hillary Clinton – gemessen an ihren Ideen und Führungsqualitäten – die nächste Präsidentin der USA werden muss“, ruft Sanders. „Es ist nicht einmal eine enge Entscheidung!“
Es ist beinahe Mitternacht, als Sanders diese Sätze sagt und vorwiegend Jubel erntet – das erste Zeichen, dass die Demokraten ihre Gräben nach stundenlangen Tumulten vielleicht doch noch überwinden. Der Auftakt zum Konvent schrammt nur knapp am Abgrund vorbei.
Hillary Clintons erste Erwähnung geschieht taktisch geschickt im Eröffnungsgebet, doch vergebens: Kaum fällt der Name, brechen zahllose Menschen in wütende „Bernie“-Rufe aus. Clinton-Fans halten mit „Hillary“-Sprechchören dagegen, aber der Zorn kommt lautstark aus dem linken Lager, und er nimmt keine Rücksichten. „Hillary Clinton, nun ist deine Zeit gekommen!“, erklärt die Kongressabgeordnete Marcia Fudge, die den Vorsitz übernommen hat. „Nooooooo!“, schallt ein hundertfacher Ruf aus der Halle zurück. „Entschuldigt mal!“, empört sich Fudge. Doch bald wird klar, dass hier so schnell kein Alltag einkehrt: Erst wird das Komitee ausgebuht, das den Wahlmodus ausgetüftelt hat, dann versinkt Redner um Redner im Protest, sobald es um Clinton geht. Der Parteitag der Republikaner in Cleveland hatte auch chaotische Momente, aber der Spitzenkandidat selbst stand längst nicht so unter Beschuss.
„Das ganze Resultat ist doch Ergebnis von Schieberei!“, schimpft Karen Bernal aus der kalifornischen Delegation. „Die Proteste hier werden noch lange so weitergehen!“
Sanders hat sich im Vorwahlprozess häufig über Ungleichbehandlung durch die Parteiführung beklagt, da half es nicht, dass am Wochenende gehackte E-Mails die Präferenz für Clinton zu belegen schienen. Der Rückzug von Chefin Debbie Wasserman Schultz besänftigt nicht viele: „Dafür haben sie ihr prompt einen wichtigen Posten in der Clinton-Kampagne gegeben – also bitte!“, empört sich Bernal, bevor sie ruft: „Schauen Sie nur, die vielen Schilder!“ Die 58-Jährige hat ebenfalls ein Poster gegen das pazifische Freihandelsabkommen TPP, aber dass ein Drittel der Arena damit gepflastert sein würde, hat sie nicht zu hoffen gewagt.
Es hat alles nichts geholfen: Der Rücktritt der Vorsitzenden, die demütige Entschuldigung, die das Democratic National Committee dem Sanders-Camp übermittelt hat. Ein eilig einberufener Sonderauftritt des selbst ernannten Sozialisten vor seinen Delegierten, seine beschwörende SMS, bitte Protestaktionen zu unterlassen. Schon am Morgen haben Tausende in der Innenstadt für ihr Idol demonstriert und dafür, das politische System grundlegend zu reformieren. Am Nachmittag sagte der Koordinator der Sanders-Delegierten, es gebe ernsthafte Pläne, die Wahl von Clintons Vize Tim Kaine zu sabotieren.
Tabby Zdunich will über die Zukunft noch nicht einmal nachdenken. „Ich weine jedes Mal, wenn Sanders redet“, sagt die 28-Jährige aus dem Bundesstaat Washington. „Er ist seit Jahrzehnten dabei und war sich immer treu.
“ Die Drogenberaterin versteht nicht, wie die Partei auf jemanden setzen kann, der gegen Trump in Umfragen regelmäßig schlechter abschneidet als Sanders. Einer CNN-Erhebung ist Trump nach dem Republikaner-Konvent in Cleveland sogar in Führung gegangen. „Es ist mir egal, ob Clinton die erste weibliche Präsidentin wäre“, sagt Zdunich. „Wichtig ist, dass im Weißen Haus jemand sitzt, der für alle arbeitet.“
Jan Kallish hält Gleichberechtigung im Weißen Haus weiterhin für einen wichtigen Markstein, auch nach dem ersten schwarzen Präsidenten. „Wir stellen 50 Prozent der Bevölkerung“, sagt die Mittfünfzigerin aus Illinois. Kallish unterstützt Clinton schon seit der Regierungszeit ihres Mannes Bill, Hillarys E-Mail-Affäre habe nichts Illegales ergeben. Die Sanders-Gefolgschaft werde deshalb auch einschwenken, glaubt Kallish: „Man wird ihnen zuhören, und bis Donnerstag ist das hier eine Partei, glauben Sie mir.“
Die Ehefrau dessen, der Clinton damals geschlagen hat, wirft sich nun mit aller Macht hinter sie: „Wegen Hillary Clinton ist es für meine Töchter und alle unsere Söhne und Töchter jetzt normal, dass eine Frau Präsident der Vereinigten Staaten sein kann“, ruft Michelle Obama. „Als sie 2008 verloren hat, ist sie nicht wütend geworden und hat resigniert!“
Videos zur besten Sendezeit erinnern an Trumps provokanteste Zitate, seine Produktion im Ausland, die Pleiten und Betrugsfälle. Paul Simon singt sinnreich „Bridge over Troubled Water“, Comedian Sarah Silverman erklärt ihren ehemaligen Sanders-Mitstreitern: „Ihr macht euch lächerlich.“ Kein Zweifel, auch die Parteileitung kämpft. Demi Lovato, Eva Longoria, die Basketball-Stars Jason und und Jarron Collins, AL Franken: Sie machen den Konvent schon am ersten Tag zu jenem Glamour-Event, das Donald Trump in Cleveland vergeblich versprochen hatte.
Zur Anti-Trump-Strategie gehört auch eine Phalanx von Menschen, die sich von ihm geschädigt oder beleidigt fühlen: Einwanderer, Behinderte, Studenten der ehemaligen Trump University. Wieder und wieder betonen sie, wie gut Hillary Clinton ihnen zugehört habe, entweder früher schon oder während ihrer Wahltour durchs Land. Trump dagegen kenne Amerika nur aus seinem Turm in Manhattan.
„Zuhören kann Hillary Clinton wirklich gut“, sagt der Delegierte Frank Long aus Wisconsin. „Ich habe sie getroffen, sie nimmt Dinge ernst.“ Long gehört zu den Männern, die Clinton unterstützen. „Sie hat als First Lady für eine allgemeine Krankenversicherung gekämpft, als Senatorin für Kinderbetreuung und als Außenministerin für Frauen- und Minderheitenrechte“, lobt der 28-Jährige. Das finden auch Elbra Wedgeworth und Patricia Shaver, zwei schwarze Abgeordnete aus Colorado. „Clinton kämpft seit der Universität für die Mittelschicht“, sagt Shaver. „Sie ist klug, großzügig, ein Teamplayer. Es war noch nie jemand so qualifiziert für den Job wie sie, und dass sie eine Frau ist, kommt noch als Plus obendrauf.“ Shaver ist sicher: „Clinton ist unsere nächste Präsidentin!“
In dieses Horn stößt schließlich auch Bernie Sanders. „Wir haben die progressivste Agenda in der Geschichte der demokratischen Partei“, rühmt er das Verhandlungsergebnis zwischen den beiden Lagern. „Unsere Aufgabe ist es nun, diese Plattform umzusetzen“, ruft Sanders – und Trump zu verhindern.