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TUNIS
Tunesien im „offenen Krieg gegen den Terror“
Martin Gehlen
 |  aktualisiert: 22.03.2015 19:18 Uhr

Wenn sein achtjähriger Sohn Yussef in der Wohnung einen Stuhl rückt, zuckt Wassil Bouzid zusammen. 48 Stunden lang hat er kein Auge zugetan, vom Einkauf kehrte er mit leeren Händen zurück. Im Supermarkt geriet er in Panik und dachte, alle wollten ihn umlegen. „Bumm, bumm, bumm“, dröhnte es in seinem Kopf. Am Abend verabredete er sich mit seinem besten Freund in einer Bar, um so vielleicht den Horror zu vertreiben. Als über den Flachbildschirm wieder die Nachrichtenbilder von den panisch aus dem Portal des Bardo-Museums flüchtenden Feriengästen flimmerten, brach er in Tränen aus. „Ich habe geheult und geheult und bin nach Hause“, sagt er. „Mal geht es fünf Minuten ganz gut, dann wieder total beschissen.“ Seitdem lässt ihn seine Frau Salma nicht mehr aus den Augen, wie auch bei dem Gespräch im „Café Classico“ in El Aouina im Norden von Tunis, wo die Familie wohnt.

Seit 24 Jahren ist der kräftige Mann Reiseführer. Auf dem großen Bardo-Parkplatz neben den Palmen hatte er sich nach der üblichen Einstundentour auf Spanisch für seine Kreuzfahrtgäste von der „MSC Splendida“ gerade eine Zigarette angesteckt. Neun Leute seiner 40-köpfigen Gruppe waren bereits zu dem Fahrer in den Bus gestiegen, die übrigen noch im Andenkenshop oder auf der Toilette. Plötzlich bemerkte er 15 Meter rechts von sich einen glatt rasierten, jungen Mann in Jeans und Jacke, der eine Kalaschnikow aus der Sporttasche zerrte und eine unendliche Weile hektisch versuchte, das krumme Patronenmagazin in den Schacht zu klicken. „Erst dachte ich, das ist ein tunesischer Zivilpolizist, dann dachte ich, da hantiert einer mit einem Spielzeuggewehr herum.“ Als dann die ersten Salven krachten, habe er kapiert, was wirklich los war. Der 48-Jährige rettete sich in die Moschee auf dem Gelände und von dort durch eine Nebentür auf das benachbarte Areal des Parlaments, wo er seinen Busfahrer auf dem Handy erreichte. Der berichtete ihm, ein zweiter Attentäter sei in den Bus gesprungen. Drei ältere Leute konnten sich nicht schnell genug ducken, zwei wurden erschossen, einer verletzt. Der Fahrer und sechs Gäste überlebten unversehrt – insgesamt starben zwölf Passagiere der „MSC Splendida“, 13 liegen mit Schusswunden im Krankenhaus.

Die Stimmung ist bedrückt

Auch Tunesien fühlt sich tief verletzt, das einzige nahöstliche Land, was nach dem Arabischen Frühling bisher nicht in Bürgerkrieg oder Militärdiktatur versunken ist. Zwei Tage später hatte die Mittelmeernation eigentlich ihren 59. Unabhängigkeitstag feiern wollen. Doch die Stimmung auf dem Boulevard Habib Bourguiba ist gedrückt, ein kalter Wind streift durch die Alleebäume. Wie ein einsamer Rufer trägt Mohammed Ali Dridi mit rotem Fez und türkisblauer Jibba sein selbst gemaltes Schild durch die Menge. „Wie schön ist unser geliebtes Tunesien“, hat der 56-Jährige darauf geschrieben. Mal umringen ihn Leute dankbar für ein schnelles Handy-Selfie, mal steht er minutenlang einsam und verloren herum. Ob die Politik diese Megakrise bewältigen kann, weiß heute niemand. In der Zentrale von Nidaa Tounes versucht man gar nicht erst, die Lage zu beschönigen. „Wir erleben eine totale Katastrophe. Menschen, die in Tunesien Urlaub machen wollten, kehren in Särgen in ihre Heimat zurück“, sagt Boujemaa Remili, Sprecher der Regierungspartei, die seit den ersten regulären demokratischen Wahlen im Herbst 2014 Präsident und Premierminister stellt sowie mit der islamistischen Ennahda als Juniorpartner in großer Koalition regiert.

„Wir betrachten uns im offenen Krieg gegen den Terror. Die Sicherheit hat jetzt absolute Priorität“, erklärt der 65-Jährige. Viele in seiner Partei jedoch, die auch ein Treffpunkt alter Regimekader ist, trauen dem islamistischen Machtpartner nicht über den Weg. Ennahda habe ein Doppelgesicht, davon ist auch Boujemaa Remili überzeugt. Der eine Teil stimme jetzt demonstrativ ein in den ausgerufenen Krieg gegen den Terror, die Mehrheit jedoch hege weiter Sympathien für radikale Strömungen.

Neues Antiterrorgesetz

In der fünften Etage der Ennahda-Zentrale, wo die Parteiführung sitzt, brennen dieser Tage ebenfalls bis spät in die Nacht die Lichter. Fathi Ayadi ist als Präsident des Shoura-Rates nach Parteichef Rachid Ghannouchi der mächtigste Mann der tunesischen Muslimbrüder. Von der Gefahr, seine Heimat könne nach Bardo zurückfallen in eine Diktatur, will der 50-Jährige nichts wissen, auch wenn mancher fromme Gesinnungsgenosse Angst hat, bald wieder wie unter Zine el-Abidine Ben Ali im Gefängnis zu landen. Aber auch er macht keinen Hehl daraus, dass er dem säkularen Koalitionspartner Nidaa Tounes nicht über den Weg traut. „Die Partei ist ein Sammelbecken und wir wissen nicht genau, wo wir bei ihnen dran sind.“

Diese Woche wird das Parlament ein neues Antiterrorgesetz verabschieden, das den Sicherheitskräften größere Spielräume gibt. Doch an Kompetenz und Integrität der Polizei mehren sich die Zweifel. Noch Stunden nach dem Attentat trampelten Schaulustige und Überlebende kreuz und quer durch die Blutlachen. Präsident Beji Caid Essebsi erklärte in einer TV-Ansprache an die Nation, die Terroristen seien in Armeeuniformen gekommen, was nach Zeugenaussagen und am Wochenende veröffentlichten Bildern nicht stimmt.

Nach Ende der Schießerei wurden die drei Stockwerke des Museums nicht systematisch nach weiteren Komplizen durchforstet, obwohl auf einem Video im Treppenhaus ein dritter Mann mit Baseballkappe und Rucksack zu sehen ist, der kurz mit den beiden Terroristen redet und dann verschwindet.

Der Vizepräsident des Parlaments musste einräumen, von den vier Museumswachen am Haupttor hätten zwei im Café gesessen, einer war am Kiosk einkaufen und der vierte nicht zum Dienst erschienen. „Als die Terroristen die ausländischen Touristen niedermähten, war kein Beamter in der Nähe – ein absolutes Versagen“, empörte sich der Politiker.

Der knapp dem Tode entronnene Touristenführer Wassil Bouzid weiß, dass er wohl auf lange Zeit keinen Fuß mehr in sein geliebtes Museum setzen wird. „Die Terroristen haben meine Seele und meine Arbeit zerstört“, sagt er.

 
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