zurück
ISTANBUL
Türkische Polizei stürmt Taksim-Platz
Mit Tränengas und Gummigeschossen: Türkische Polizisten bewegen sich auf den Taksim-Platz in Istanbul zu.
Foto: afp | Mit Tränengas und Gummigeschossen: Türkische Polizisten bewegen sich auf den Taksim-Platz in Istanbul zu.
Von unserem Korrespondenten Gerd Höhler
 |  aktualisiert: 11.06.2013 19:16 Uhr

Zwölf Tage lang blieb die türkische Polizei am Istanbuler Taksim-Platz, dem Ausgangspunkt und Zentrum der Proteste gegen die islamisch-konservative Regierung, auf Distanz. Am Dienstagmorgen trat sie wieder in Aktion – nachdem Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan tags zuvor gewarnt hatte, seine Geduld habe Grenzen.

Mit Wasserwerfern, gepanzerten Fahrzeugen und reichlich Tränengas eroberten starke Polizeikräfte den besetzten Taksim-Platz zurück. Mit Baggern räumten die Einsatzkräfte Barrikaden ab, die Demonstranten in den Tagen zuvor aus Baumaterialien, zurückgelassenen Absperrgittern und umgestürzten Autos, darunter vielen demolierten Polizeifahrzeugen, errichtet hatten.

Der Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu erklärte, Ziel der Räumung des Platzes sei es, Plakate und Spruchbänder „legaler und illegaler Organisationen“ zu entfernen, die von der Öffentlichkeit als störend empfunden würden und für das Bild der Türkei im Ausland schädlich seien. Demonstranten hatten in den vergangenen Tagen große Poster an der Fassade des Atatürk-Kulturzentrums angebracht sowie das Denkmal der Republik auf dem Platz mit Spruchbändern drapiert.

Bei dem Polizeieinsatz seien einige Personen verletzt worden, aber nur leicht, sagte Mutlu. Der Gouverneur unterstrich, der Einsatz richte sich nicht gegen das Protestcamp im angrenzenden Gezi-Park, wo friedlich Aktivisten in Zelten ausharren. Dennoch berichteten Augenzeugen, Polizisten seien mit Tränengas und Pfefferspray zeitweilig auch in den Park vorgestoßen. Die Protestbewegung will sich nicht geschlagen geben: Sie rief für Dienstagabend zu einer friedlichen Kundgebung in den Gezi-Park.

Der türkische Premier Tayyip Erdogan gibt sich unterdessen gesprächsbereit – und kompromisslos. Am heutigen Mittwoch will sich der Regierungschef zwar mit Vertretern der Protestbewegung treffen, „um die Demonstrationen zu beenden“, wie Vizepremier Bülent Arinc ankündigte. Die umstrittenen Bauprojekte auf dem Taksim-Platz, an denen sich die Proteste entzündeten, will Erdogan aber unbeirrt umsetzen. Erdogan dankte am Dienstag der Polizeiführung für ihren Einsatz auf dem Taksim-Platz. In einer Rede vor der Parlamentsfraktion seiner islamisch-konservativen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) bekräftigte der Premier, die Umgestaltung des Stadtviertels um den Platz, wo der Gezi-Park der Rekonstruktion einer Armeekaserne aus ottomanischer Zeit und das Atatürk-Kulturzentrum einer Moschee weichen sollen, werde wie geplant durchgezogen. Erdogan warf Geschäftsleuten und Medien vor, Chaos zu schüren. Die Demonstranten seien „Marionetten von Finanzspekulanten“, die auf höhere Zinsen und größere Gewinne aus seien. „So etwas werden wir nicht dulden, damit ist jetzt Schluss“, rief Erdogan und versicherte unter großem Beifall seiner Abgeordneten: „Dieser Tayyip wird sich nicht ändern.“

„Gezielter Angriff“

Hinter den Protesten, die sich anfänglich gegen die geplante Bebauung des Gezi-Parks richteten und dann, nach dem brutalen Polizeieinsatz gegen die friedlichen Aktivisten am frühen Morgen des 31. Mai, zu landesweiten Demonstrationen gegen die Regierung Erdogan anwuchsen, vermutet Erdogan einen gezielten Angriff zur Schwächung des Landes. „Die Anstrengungen, die unternommen werden, um dem Image der Türkei zu schaden, sind Teil eines systematischen Plans“, sagte Erdogan vor seiner Fraktion.

Bereits in den vergangenen Tagen hatte Erdogan eine „Zins-Lobby“ als Drahtzieher der Proteste gegeißelt und gedroht, er werde Börsenspekulanten „die Kehle zudrücken“. Während angesichts der Konfrontation in der Türkei viele Anleger kalte Füße bekommen, abzulesen am Kurssturz der Istanbuler Börse und der Landeswährung Lira, versucht die türkische Zentralbank jetzt gegenzusteuern. Mit einer Straffung ihrer bisher lockeren Geldpolitik will sie die Lira stützen. So soll die Versorgung der türkischen Geschäftsbanken mit Liquidität vorübergehend reduziert werden. Die Zentralbank erwägt auch, die angeschlagene Landeswährung mit Fremdwährungsverkäufen zu stützen. Die Lira reagierte am Dienstag auf die Ankündigungen mit Kursgewinnen zu Dollar und Euro.

Urlaubsorte von Unruhen kaum betroffen

Die Proteste in der Türkei bekommen Urlauber Reiseveranstaltern zufolge derzeit nur in Großstädten wie Istanbul zu spüren. Einschränkungen gebe es daher höchstens bei Städtereisen, sagt Sibylle Zeuch vom Deutschen Reiseverband (DRV). Da aber im Moment nicht die Saison dafür sei, wirkten sich die Zusammenstöße von Polizei und Demonstranten kaum auf Touristen aus. In den Badeorten, etwa an der türkischen Riviera, wo sich im Moment die meisten Touristen aufhielten, sei es nach wie vor ruhig. Das Auswärtige Amt verschärfte Ende vergangener Woche seine Sicherheitshinweise für Reisende in der Türkei. Sie sollen sich von Demonstrationen und Menschenansammlungen fernhalten und die Berichterstattung vor Ort verfolgen. Vor allem in den Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir könne es zu gewalttätigen Zusammenstößen und Tränengaseinsätzen kommen, warnte die Behörde. Besorgte Nachfragen von Kunden, die für die kommenden Tage eine Reise in die Türkei planen, habe es bislang nur wenige gegeben, sagt Kathrin Rüter vom Türkei-Spezialisten Öger Tours. Nur TUI musste einen Ausflug und eine Rundreise geringfügig umplanen. In beiden Fällen hätten Touristen ursprünglich den Taksim-Platz passiert. Sie hätten sicherheitshalber eine geänderte Route gewählt, sagte eine Mitarbeiterin. Auch Gäste von Thomas Cook/Neckermann bekämen von den Protesten kaum etwas zu spüren, sagte Sprecherin Nina Kreke. Text: dpa

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Auswärtiges Amt
Bauprojekte
Demonstranten
Demonstrationen
Landeswährungen
Ministerpräsidenten
Polizei
Protestbewegungen
Recep Tayyip Erdogan
TUI AG
Thomas Cook AG
Tränengas
Urlaubsorte
Öger Group
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen