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ISTANBUL
Tote bei Kurden-Protesten in der Türkei
Die Wut entlädt sich auf der Straße: Weil die türkische Regierung im Kampf um Kobane nicht einschreitet, haben Kurden landesweit demonstriert. Bei Ausschreitungen kamen mindestens 19 Menschen ums Leben.
Foto: Sertac Kayar, dpa | Die Wut entlädt sich auf der Straße: Weil die türkische Regierung im Kampf um Kobane nicht einschreitet, haben Kurden landesweit demonstriert. Bei Ausschreitungen kamen mindestens 19 Menschen ums Leben.
reda
 |  aktualisiert: 24.05.2022 09:39 Uhr

Mindestens 19 Tote, brennende Fahrzeuge und Gebäude, geplünderte Geschäfte, Panzer auf den Straßen – geschockt blickte die Öffentlichkeit in der Türkei am Mittwoch auf die schlimme Bilanz von Kurden-Protesten gegen die Syrien-Politik der Regierung von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Mit den Unruhen wächst der Druck auf die Regierung, den kurdischen Verteidigern der nordsyrischen Kurdenstadt Kobane gegen den Angriff des „Islamischen Staates“ (IS) zu helfen. Der türkisch-kurdische Friedensprozess ist in Gefahr.

Selbst für die an heftige Straßenkämpfe gewohnte Türkei ist die Zahl der Todesopfer der Kurdenunruhen sehr hoch. Allein zehn Tote gab es in der Großstadt Diyarbakir zu beklagen, der inoffiziellen Kurdenhauptstadt der Türkei. Wie der aus Diyarbakir stammende Agrarminister Mehdi Eker mitteilte, starben die meisten Opfer an Schussverletzungen.

Neue Gewaltwelle in der Türkei?

In der Stadt hatten sich nicht nur Demonstranten und die Polizei bekämpft, sondern auch Kurden und Anhänger der türkischen radikal-islamischen Hisbollah. Der türkisch-kurdische Parlamentsabgeordnete Ertugrul Kürkcü warf Davutoglus Regierungspartei AKP vor, die Hisbollah und die ebenfalls islamistische Hüda-Partei als „ihren eigenen IS“ zu benutzen, um gegen Andersdenkende vorzugehen. Aus einigen kurdischen Städten wurde berichtet, Anhänger der Hüda-Partei hätten das Feuer auf Kurdendemonstranten eröffnet.

Allerdings kamen nicht nur Kurden ums Leben. Fünf der zehn Todesopfer in Diyarbakir sollen Hisbollah-Anhänger gewesen sein. Die Hüda-Partei erklärte, sechs ihrer Mitglieder seien bei den Unruhen ums Leben gekommen. Damit steht die Türkei möglicherweise vor einer neuen Gewaltwelle von militanten Islamisten und Kurden.

Nach den Unruhen vom Dienstag wurden in einem halben Dutzend Provinzen Ausgangssperren erlassen; es gab Berichte über Plünderungen von Geschäften. In einigen Städten patrouillierten Soldaten und Panzer durch die Straßen – Szenen, die an das Kriegsrecht in den schlimmsten Tagen des Kurdenkonflikts erinnerten. Minister Eker sagte, je nach Entwicklung würden die Ausgangssperren um eine weitere Nacht verlängert. In Diyarbakir gab es am Mittwochnachmittag neue Zusammenstöße zwischen Kurden und Sicherheitskräften.

Der Kurdenpolitiker Kürkcü sagte, das Verhalten der türkischen Regierung angesichts der Belagerung von Kobane sowie die neue Gewalt in den Kurdengebieten bringe die Friedensverhandlungen zwischen dem türkischen Staat und der Rebellengruppe PKK in große Gefahr. Der inhaftierte PKK-Chef Abdullah Öcalan hat Ankara ein Ultimatum bis zum 15. Oktober gestellt, um die Friedensverhandlungen zu retten.

Für die rund zwölf Millionen Kurden in der Türkei ist die Belagerung von Kobane zu einem wichtigen Symbol für Freiheitswillen und Widerstandsgeist geworden. Kurdenpolitiker beklagen die Weigerung der türkischen Regierung, den Kurden von Kobane zu helfen. Davutoglu hatte eine solche Hilfe vergangene Woche versprochen.

Die syrischen Kurden in Kobane und in zwei anderen Gebieten Nordsyriens hatten sich Anfang des Jahres für autonom erklärt, was in Ankara Sorgen wegen möglicher Folgen für das türkische Kurdengebiet auslöste; die nordsyrische Kurdenpartei PYD ist ein Ableger der PKK, die trotz der seit 2012 laufenden Friedensverhandlungen immer noch als Terrorgruppe gilt.

IS wieder in der Offensive

In Kobane selbst gingen auch am Mittwoch die Kämpfe zwischen den Kurden und den Angreifern des IS weiter. Nachdem die seit Dienstag erheblich gesteigerten Luftangriffe der internationalen Koalition und kurdische Kämpfer die Dschihadisten zunächst gebremst hatten, gingen die IS-Milizen am Mittwoch zu einer Gegenoffensive über. Auch wenn bei den Luftschlägen offenbar Panzer und andere schwere Waffen der Belagerer zerstört worden war.

Ein dpa-Korrespondent in Suruc berichtete von heftigen Gefechten in Kobane die auf der türkischen Seite der Grenze zu hören seien. Verwundete kurdische Kämpfer würden aus Kobane in türkische Krankenhäuser gebracht.

Unterdessen schickte die Türkei erstmals medizinische Hilfsgüter nach Kobane, wie PYD-Chef Salih Müslim mitteilte. Noch keine Entscheidung gibt es hinsichtlich einer anderen Forderung des syrischen Kurdenpolitikers: Müslim hatte die türkische Führung um die Erlaubnis gebeten, bewaffnete Kurdenkämpfer aus zwei anderen Kurdengebieten in Syrien über türkisches Territorium nach Kobane bringen zu dürfen. Ein solcher Transfer würde den kurdischen Verteidigern von Kobane erheblich helfen.

Stoltenberg kommt nach Ankara

An diesem Donnerstag wird Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu Gesprächen mit der türkischen Führung in Ankara erwartet. Nach Worten des türkischen Verteidigungsministers Ismet Yilmaz hat die Allianz auf Antrag der Regierung in Ankara hin Pläne für den möglichen Bündnisfall im Zusammenhang mit der Lage in Syrien ausgearbeitet. Stoltenbergs Gastgeber dürften auch über das türkische Vorhaben sprechen, auf syrischem Boden mehrere Pufferzonen einzurichten, in denen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge versorgt werden könnten. Es ist jedoch kaum zu erwarten, dass die amerikanischen und europäischen Nato-Partner der Türkei eigene Bodentruppen zur Sicherung dieser Pufferzonen bereitstellen wollen.

 
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