Furchen überall. Furchen stückeln die Lehmwand hinter ihrem Bett, Furchen durchziehen ihr Gesicht. Es sind die Linien eines langen, intensiven Lebens, das sie 1916 als kleines Mädchen an diesen Ort geführt hat. Pimental heißt er und ist im Norden Brasiliens Heimat für 84 Familien. Noch. Als Dorfälteste der gut 700 Bewohner erinnert sich Maria Bibiana da Silva im fast biblischen Alter von 107 Jahren an die Anfänge. Sie kamen als Siedler und erkämpften sich Land von den Indios.
Heute sind die Bewohner von Pimental und die verbliebenen Indigenen vom Volk der Munduruku Verbündete – gegen einen gemeinsamen, übermächtig erscheinenden Gegner: Mit dem Segen der Regierung soll ein internationales Konsortium aus neun Firmen hier eine von sieben großen Staustufen am Tapajós bauen, ein Nebenfluss des Amazonas und mit einer Länge von 2000 Kilometern selbst ein gewaltiger Strom. Der Plan: Den Tapajós vor Sao Luiz mit einer 53 Meter hohen und 7,6 Kilometer langen Mauer stauen. Ein See über 123 Kilometer, und mittendrin: die Dörfer Pimental und Aldeia de Munduruku. 8000 Megawatt Strom soll das Kraftwerk erzeugen – sechsmal so viel wie der stillgelegte Reaktor von Grafenrheinfeld.
Groß ist der Energiehunger Brasiliens, für den Bergbau, die Aluminium-Erzeugung und die Exportindustrie. Die normale Bevölkerung profitiert davon kaum in einem Land, das vor sozialer Ungleichheit zu zerbersten scheint. In der siebtreichsten Volkswirtschaft der Welt leben 14 Prozent der 200 Millionen Brasilianer unterhalb der Armutsgrenze. In nur wenigen Ländern sind die Einkommen ungerechter verteilt.
Franz von Assisi, der Patron für Armut und Naturverbundenheit, grüßt von einem verblichenen Bild an der zerfurchten Lehmwand. Die Dorfälteste hat ihr Gottvertrauen nicht verloren. Dass Pimental einfach versenkt werden soll, das mag da Silva nicht glauben. „Ich möchte in Frieden sterben, hier, wo meine Eltern begraben sind. Das ist doch meine Heimat.“ Jüngere im Dorf wollen weiter hier leben, ihre Kultur und Identität nicht aufgeben. Doch es sieht nicht gut aus für Pimental. Das Staudamm-Projekt ist weit gediehen, nach letztem Stand sollte noch im Februar die Lizenz versteigert werden. „Jeden Tag geht mir dieser Film durch den Kopf“, sagt Gemeindekatechet Edmilson Reibeira Azevedo. Dieser „Film“ macht ihn todtraurig – die Vorstellung, wie das Wasser langsam über die Ufer tritt, die Wege überspült, die Hütten mitreißt und die Dorfbewohner um ihr Leben rennen.
Zwei Stunden Bootsfahrt flussaufwärts: Bei Hochwasser kommen dem Munduruku-Dorf Aldeia schon jetzt die Fluten des Tapajós gefährlich nahe. Ist erst der Staudamm gebaut, verlieren die 13 Familien ihre Existenz. Häuptling Valto Datie sagt es drastischer: „Dann bringt uns die Regierung um.“ Wohin sie umsiedeln sollen? Die Munduruku wissen es nicht. Sie sind gewohnt zu kämpfen – nicht gegen, sondern für die Natur. Sie leben in Einklang mit dem Fluss, er ist ihnen heilig. „Der Staudamm ist eine Gefahr für unsere Kultur, er bringt uns nur Nachteile“, warnt der Häuptling und bittet um Unterstützung der Munduruku in ihrem Bestreben, das indigene Dorf offiziell als Schutzgebiet eintragen zu lassen. Dies könnte tatsächlich noch das Aus für den Staudamm bedeuten. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit bzw. der Lizenzvergabe – und die Behörden haben es mit der Ausweisung des Schutzgebietes offenkundig nicht eilig.
Es geht am Tapajós mit seinen 350 dokumentierten Fischarten um weit mehr als ein ökologisches Fiasko. Bedroht sind die Lebensgrundlagen der Anrainer, der sogenannten „Ribeirinhos“, und der verbliebenen Ureinwohner. Sie in ihrer Notlage nicht allein zu lassen – das hat sich die Kommission für Landpastoral (CPT) zur Aufgabe gemacht, die als einer von fast 250 Partnern in Brasilien vom bischöflichen Hilfswerk Misereor gefördert wird. In 40 Gemeinden mit einer Ausdehnung so groß wie Deutschland ist Pfarrer Joao Carlos Portes für die CPT unterwegs, darunter auch zwei Indio-Dörfer und die Gemeinden am Fluss.
Hunderte Kilometer legt er auf Schlaglochpisten zurück, vor Ort berät er die Menschen in Rechtsfragen, klärt auf und erhebt für sie die Stimme. Der Pfarrer als charismatischer Sozialarbeiter, schon äußerlich: Schulterlange dunkle Haare, markanter Bart, Lederhut – ein Laienspiel-Jesus. Carlos, der zur Misereor-Fastenaktion nach Deutschland kommt, kann wütend werden, wenn er sich über die Schönfärberei der Großprojekte auslässt. Er hat genug gesehen in den vergangenen Jahren. Am Xingu zum Beispiel, einem anderen Amazonas-Nebenfluss, wo in Belo Monte ein riesiger Staudamm gerade fertig gestellt wurde.
Anfängliche Gewinne durch neue Arbeitsplätze und Gastarbeiter seien schnell verflogen: „Erst waren die Leute für das Projekt, aber jetzt sind alle dagegen.“ Die Großprojekte von Regierung und multinationalen Konzernen würden der Bevölkerung übergestülpt, sie kommen „wie ein Traktor über die Menschen”. Echte Mitbestimmung? Fehlanzeige. Zwar müssen zumindest indigene Völker im Planungsprozess angehört werden, was am Tapajós mittlerweile nachgeholt wurde. Bindend ist das Votum der Betroffenen aber nicht.
Ob Gold, Diamanten, Bauxit oder Eisen – für Pfarrer Carlos ist klar, wer die Gewinne einstreicht: weder die örtlichen Gemeinden noch das Bundesland, sondern die global agierenden Unternehmen. Zurück blieben die Probleme durch den Bevölkerungszuwachs, Arbeitslosigkeit, Gewalt und Prostitution. Hinzu kommen Konflikte durch illegalen Holzeinschlag und Landspekulation. Wer sich querstellt, wird bedroht oder sogar ermordet. Die Landpastoral mit Sitz in der Provinzstadt Itaituba (Bundesstaat Pará) stärkt die Bevölkerung in ihrem Widerstand, führt Informationskampagnen durch und nimmt an Anhörungen mit Umweltbehörden teil.
Auch das Staudamm-Konsortium klärt auf, eine PR-Agentur wurde damit beauftragt. In einer Seitenstraße in Itaituba hat das eigens eingerichtete Büro von „Diálogo Tapajós“ seinen Sitz. Nein, beteuert Mitarbeiterin Sandra Siqueira, man verstehe sich nicht als Werbeagentur für den Staudammbau, „wir sprechen nicht dafür oder dagegen, wir wollen die Bevölkerung neutral informieren.“ Dazu gehen die Mitarbeiter in die Dörfer, Schulen oder zu Gruppen, die PR-Frau spricht von einer „delikaten Arbeit“ in den Gemeinden, gerade in dem untergehenden Pimental. Bei monatlichen Besuchen im Dorf kochen Emotionen hoch, andere Bewohner stellten sachlich Fragen zum Planungsprozess.
17 000 Seiten zählt die in zwei Jahren erstellte Umweltstudie zum Staudammprojekt, zusammengefasst auf 120 Seiten. Doch, so räumt Siqueira ein, müssten vor der öffentlichen Auslegung noch 180 Fehler korrigiert werden. Warum dieser Staudamm? „Er ist ein nationales Bedürfnis. Brasilien braucht die Energie.
“ Dafür müssen laut Erhebung des Konsortiums 1404 Menschen ihre Heimat aufgeben – die Hälfte von ihnen für die Baustelleneinrichtung und das Materialdepot, 533 werden geflutet und 134 müssen für Leitungen weichen.
Pfarrer Carlos kann bei solchen Zahlen nur den Kopf schütteln. Als „Betroffene“ würden von den Projektleuten nur die Menschen gezählt, die umsiedeln müssen. Nicht erfasst werde, wo Bewohner von Jagdgebieten abgeschnitten werden oder die Fischer am Fluss nichts mehr fangen. Die negativen Folgen seien viel weitreichender als von offizieller Seite zugegeben. Allein am Tapajós sollen 80 000 Menschen betroffen sein.
Wer sein Zuhause durch den Staudammbau verliert, soll entschädigt werden. Drei Möglichkeiten nennt Dialog-Frau Siqueira: Entweder eine Geldzahlung, wobei das Grundstück samt Bebauung berechnet wird. Problem: Die meisten haben keine Eigentumsurkunden. Entschädigt werde zum „lokalen Preis“. Eine zweite Möglichkeit sind Kreditbriefe, die beim Kauf einer neuen Hütte eingelöst werden können. Oder drittens die Umsiedlung in ein neues Heim in ähnlichem Lebensumfeld. Klingt kooperativ, doch haben Konzerne und Regierung beim Staudammprojekt am Xingu ihre Glaubwürdigkeit verspielt.
Betroffene fühlen sich getäuscht, weil sie viel weniger als erhofft für ihre Hütten bekamen oder die neuen Domizile nicht den versprochenen Standard hatten.
„Manche denken wirklich, sie könnten durch die Entschädigung reich werden“, hat Lehrerin Joilma Joaquin Damasceno de Oliveiro bei ihren Schülern in Pimental beobachtet. Die 38-Jährige spricht den Staudamm im Unterricht offen an. Doch kommt es im Dorf mittlerweile zu Spannungen zwischen Gegnern und Befürwortern des Mega-Projekts. Sie selbst sagt Nein zum Staudamm, genauso wie ihr Mann, der gar zur Waffe greifen will. So weit geht der Widerstand der Lehrerin nicht, aber auch sie ist überzeugt: „Wir müssen für unsere Rechte kämpfen!“
So wie es das 2500 Kilometer weiter südlich, in Sao Paulo, das Menschenrechtszentrum Gaspar Garcia (CGG) tut, ebenfalls gefördert von Misereor. Größer als zwischen dem ländlichen Amazonas-Gebiet und der Elf-Millionen-Metropole am Atlantik können Gegensätze in einem Land kaum sein. Samt Großraum ist Sao Paulo mit 21 Millionen Einwohnern die größte Stadt der Südhalbkugel. Ein nicht endendes Meer aus Hochhäusern – und hinausgespült aus der Gesellschaft die Hungrigen und Obdachlosen in den Gassen, Favelas, auf Verkehrsinseln.
Zwei Millionen Menschen leben in Elendsvierteln, in Hütten, Abbruchhäusern oder – als Massenquartiere – in besetzten Häusern, den „corticos“.
In zehn Jahren hat sich die Zahl der Obdachlosen auf 16 000 verdoppelt, während die Superreichen mit dem Helikopter zum Einkaufen fliegen. Das Zentrum Gaspar Garcia nimmt sich der Armen an, verteidigt ihr Recht auf Wohnen, ihr „Recht auf Stadt“. CGG-Anwälte bieten kostenlose Rechtsberatung, das Zentrum organisiert Selbsthilfegruppen oder hilft beim Aufbau von Genossenschaften. „Gaspar Garcia ist ein Zentrum für Rechte von Menschen ohne Rechte“, sagt René Ivo Goncalves, einer der Direktoren und Mitbegründer. Das Zentrum unterstützt Auffangeinrichtungen – wie etwa eine kommunale Obdachlosenküche.
500 Essen geben sie hier täglich aus. Schon früh schlagen die ersten Gestrandeten auf. Nicht nur satt sollen sie werden. Mit Tanz, Musik, Workshops und Kursen will man ihnen ihr Selbstwertgefühl zurück geben. „Die Menschen“, sagt Leiterin Ruth Batista, „sollen wieder lächeln können.“ Claudemir Antonio Neves tut es. Der 32-Jährige lebte selbst auf der Straße, heute ist er Mitarbeiter der Obdachlosenküche, bekommt sein Gehalt und kann sich sein eigenes Leben aufbauen.
Drogen, Alkohol – all das hat er zurückgelassen. Andere nehmen sich ihr Recht und besetzen vor lauter Verzweiflung leer stehende Häuser, nicht selten Spekulationsobjekte. Claudemir Neves hatte Glück, bekam durch die Sozialeinrichtung eine Chance, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Das erste Mal arbeitet er nun festangestellt mit Lohnsteuerkarte. „Das macht mich sehr zufrieden. Es ist eine Gelegenheit, die ich festhalten will – und das Beste daraus machen.“ Und er lächelt. Aus einem Gesicht der Hoffnung. Ganz ohne Furchen.