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ANKARA
Tief gespalten – und unregierbar?
Funerals of the Ankara bombings in Istanbul       -  Trauer und Entsetzen: Angehörige bei der Beerdigung eines Opfers des Terroranschlags.
Foto: Tolga Bozoglu, dpa | Trauer und Entsetzen: Angehörige bei der Beerdigung eines Opfers des Terroranschlags.
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 |  aktualisiert: 24.05.2022 09:37 Uhr

Tausende Menschen bei Beisetzungsfeiern überall im Land, Arbeiter, Beamte, Akademiker und Ärzte im Proteststreik – die Türkei trauerte am Montag um die Opfer des Terroranschlags von Ankara, bei dem fast 100 Menschen starben. Doch es war keine gemeinsame Trauer einer Nation, die gerade den schlimmsten Terroranschlag ihrer Geschichte erlebt hat. Vielmehr wurde deutlich, dass die Risse in der türkischen Gesellschaft so tief sind wie nie zuvor. Das Wort von der Unregierbarkeit des Landes macht die Runde.

Weniger als drei Wochen vor der Parlamentswahl am 1. November zerfällt das Land immer mehr in zwei Lager: Anhänger und Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen Regierungspartei AKP. Eine Verständigung zwischen diesen Blöcken wird immer schwieriger. So weigert sich AKP-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, mit der legalen Kurdenpartei HDP zu sprechen, die etliche Mitglieder bei dem Anschlag verlor. Kein Regierungsmitglied ließ sich bei den Beisetzungsfeiern für die Anschlagsopfer blicken.

Einige regierungsnahe Medien schürten die Spannungen, indem sie die absurde Theorie verbreiten, die PKK-Kurdenrebellen hätten den Anschlag im Auftrag des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad ausgeführt. Die islamistische Zeitung „Yeni Akit“ setzte noch eins drauf und machte die Geheimdienste Deutschlands, Großbritanniens und der USA für die Gewalt verantwortlich.

Burhan Kuzu, ein Berater von Präsident Recep Tayyip Erdogan, bezeichnete den Anschlag gar als Folge der Wahl vom 7. Juni, bei der die AKP abgestraft wurde und ihre Mehrheit im Parlament verlor. In einer als besonders abstoßend kritisierten Art der Wählerbeschimpfung schrieb Kuzu nach dem Anschlag, die Menschen hätten „das Chaos gewählt“.

Umgekehrt sind die HDP-Führung und viele Kurden und Linke felsenfest überzeugt, dass der Staat in die Gewalttat von Ankara verwickelt war. Die Behörden hätten „Blut an den Händen“, sagte HDP-Chef Selahettin Demirtas. Die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ meldete, Zivilpolizisten seien bei der von zwei Selbstmordattentätern angegriffenen Friedensdemo von Ankara zwar anwesend gewesen, hätten die Gewalttat aber nicht verhindert.

Unterdessen kommen die Ermittlungen nur langsam voran. Regierungschef Davutoglu sagte, Anhänger des Islamischen Staates (IS) seien die Hauptverdächtigen. Einer der beiden Attentäter werde bald identifiziert sein. Laut Presseberichten konzentriert sich die Tätersuche auf eine mutmaßliche IS-Zelle aus Ostanatolien. Einige Mitglieder dieser Zelle sind der Polizei bekannt – warum sie dennoch frei herumlaufen und Anschläge verüben konnten, gehört zu den vielen offenen Fragen. Davutoglu betonte, in jüngster Zeit seien in Ankara und Istanbul einige andere Anschläge verhindert worden. Doch das kann die Kritiker nicht beruhigen.

Da die meisten Umfragen für die Wahl am 1. November erneut keine klaren Mehrheitsverhältnisse im Parlament voraussagen, verbreitet sich das Gefühl, die Türkei treibe ruderlos immer neuem Unglück entgegen. „Die Krise wird zunehmend unlösbar“, analysierte das Unternehmen Teneo Intelligence, das andere Firmen bei Sicherheitsfragen berät.

Der Psychologe Kemal Sayar sagte im Sender „Al Jazeera“, die Türken brauchen jetzt Solidarität in der Gesellschaft und eine gemeinsame Aufarbeitung des Traumas. Doch davon ist nichts zu sehen. Das linksgerichtete Portal „Sol“ kommentierte, die Türkei sei unregierbar.

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, hat gar vor gewaltsamen Auseinandersetzungen auch in der Bundesrepublik gewarnt. Angesichts der Situation in der Türkei „befürchte ich eine weitere Eskalation auch hier“, sagte Sofuoglu dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Laut Bundesinnenministerium beobachten die Sicherheitsbehörden die Lage hierzulande „sehr genau“.

Sofuoglu verwies darauf, dass sich auf türkischer und auf kurdischer Seite verschiedene Gruppierungen entwickelten. So gebe es sogenannte Osmanen in Deutschland, die sich als gewaltbereite Verteidiger des Türkentums bezeichneten. Auf der anderen Seite stünden Anhänger des inhaftierten Führers der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan. Beide Gruppen seien zwar in der Minderheit, unterstrich Sofuoglu. Er gelte jedoch: „Wehret den Anfängen.“

 
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