Seit dem Brexit-Votum scheinen sich die Briten daran gewöhnt zu haben, dass sich fast täglich die Ereignisse überschlagen. Und trotzdem zeigen sie sich immer wieder erstaunt über das Chaos in Westminster. Das bizarre Schauspiel im britischen Politbetrieb findet kein Ende. Gestern zog Andrea Leadsom überraschenderweise ihre Kandidatur für den Parteivorsitz der Konservativen zurück und machte damit ihre Mitbewerberin praktisch zur neuen Premierministerin.
Bereits am Mittwochabend wird Theresa May die Nachfolge von David Cameron antreten, wie der Noch-Regierungschef bestätigte. Denn: May war die einzig verbliebene Kandidatin. Eigentlich hätten die rund 150 000 Mitglieder der Tories bis Anfang September in einer Urwahl die nächste Vorsitzende küren sollen. Aber nach Plan läuft auf der Insel seit dem Brexit-Votum ohnehin nichts mehr. Sowohl die regierenden Tories sind tief gespalten als auch die Labour-Partei, in der seit Wochen eine offene Revolte läuft
Zu den Konservativen: May sei in der idealen Position, „um den Brexit unter den bestmöglichen Bedingungen für das britische Volk umzusetzen“, tönte Leadsom, nachdem sie am Mittag scheu lächelnd vor ihre Haustür trat und umschwenkte. Ein wochenlanger Wahlkampf würde das Land weiter destabilisieren. Kurz zuvor hatte May bei einem Auftritt für sich geworben, da noch im Glauben, sie habe eine Rivalin, die anders als die Innenministerin zum Lager der Brexit-Befürworter gehörte. Es werde keine Versuche geben, „durch die Hintertür“ in der EU zu bleiben, versicherte May. „Brexit bedeutet Brexit.“
Damit versuchte die Konservative die größte Sorge der EU-Gegner zu zerstreuen, die darin besteht, dass deren Votum unter einer Premierministerin May nicht respektiert werde. Denn die kühle und für ihre Disziplin gelobte Britin hatte sich für die Mitgliedschaft in der EU ausgesprochen, auch wenn sie nicht gerade als besonders europhil gilt. Die 59-Jährige soll nun die Rolle der Versöhnerin übernehmen.
Warum aber gab Leadsom auf? Die überwältigende Mehrheit der Parteibasis ist, anders als die parlamentarische Fraktion, europaskeptisch eingestellt, weshalb der Energie-Staatssekretärin veritable Chancen eingeräumt wurden. Doch sie war politisch unerfahren, manche meinen „naiv“ und „schlicht ungeeignet“. Es dauerte nur zwei Tage, bis sich der Machtkampf zwischen den beiden Frauen zur Schlammschlacht entwickelte.
Am Wochenende erschien ein Interview in der Londoner „Times“, in dem Leadsom andeutete, sie als dreifache Mutter eigne sich besser für das Amt als May, deren Kinderwunsch aus medizinischen Gründen unerfüllt geblieben war. Nach der Veröffentlichung gab Leadsom sich empört, sie habe „genau das Gegenteil“ gesagt. Mitschnitte aber belegten, dass ihre Behauptungen, die viele Parteikollegen als „geschmacklos“ verurteilten, zwar zugespitzt, jedoch keineswegs verdreht waren. Leadsom verwies darauf, dass sie von weniger als 25 Prozent in der Fraktion unterstützt wurde und damit von zu wenigen, um das Land zu führen. Womit die Brücke zu Labour geschlagen wäre, immerhin wäre deren Chef Jeremy Corbyn froh, hätte er zumindest ein Viertel seiner Abgeordneten hinter sich.
„Brexit bedeutet
Brexit.“
Bei den Sozialdemokraten spitzte sich die Führungskrise zu, nachdem die Politikerin Angela Eagle ihre Bewerbung für den Vorsitz offiziell machte. Es seien „dunkle Zeiten für Labour und sie sind gefährlich für unser Land“, so die 55-Jährige, die seit Wochen Corbyn zum Rücktritt auffordert. Der will nicht gehen, sondern verweist darauf, dass vor neun Monaten fast 60 Prozent der Parteibasis für ihn gestimmt hatten.
Die Stimmung ist völlig vergiftet. Weite Teile der parlamentarischen Fraktion sind der Ansicht, dass viele Labour-Wähler sich von den Anti-EU-Argumenten der Rechten überzeugen ließen, weil Corbyn zu halbherzig für die Mitgliedschaft geworben habe. Eagle, die als Wirtschaftsministerin zu Corbyns Schattenkabinett gehörte, will ihre Partei wieder einen. Corbyn sei „unfähig, die Führung zu geben, die für diese riesige Aufgabe nötig ist“, sagte sie. Natürlich meinte sie den Brexit. Dabei wird es vermutlich noch schwieriger sein, aus der Labour-Partei wieder eine ernsthafte Opposition zu bilden.