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Theresa May hat hoch gepokert und viel verloren
Mayday, Mayday       -  _
byl
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:43 Uhr

Vielleicht wirkte die Situation noch absurder, weil es kurz nach vier Uhr am Morgen war und das Königreich abermals übermüdet nach einer kurzen Nacht von einem politischen Erdbeben geweckt wurde. Vielleicht war es aber auch schlicht dem skurrilen Bild geschuldet: Als Premierministerin Theresa May in ihrem Wahlkreis Maidenhead mit ihren Kontrahenten das Ergebnis abwartete, stand sie in einer Reihe mit Elmo, dem Kandidaten im roten Plüschkostüm, und Lord Buckethead, „dem intergalaktischen Weltraum-Fürsten“, der mit seinem schwarzen Gewand und einem langen Kübel über dem Kopf aussah, als sei er aus einer Karikatur von „Star Wars“ entsprungen.

Doch May hatte in diesem Moment keinen Blick für ihre Mitbewerber, geschweige denn einen Sinn für britischen Humor in seiner Höchstform. Die Konservativen verloren bei der Parlamentswahl am Donnerstag ihre absolute Mehrheit. Und das ist die Niederlage von Theresa May.

Nachdem sie in der Nacht zum Freitag pro forma zur Siegerin in Maidenhead, einer Gegend im Speckgürtel von London, gekürt wurde, betonte sie in ihrer kurzen, starren Rede, das Land brauche nun eine Phase der Stabilität. Ihre Stimme zitterte, sie lächelte gequält, und weder Lord Buckethead noch Elmo oder dem Rest der Briten dürfte der Irrwitz entgangen sein, der in ihren Worten mitschwang. Denn in Westminster herrscht Chaos. Es gibt ein Patt im Parlament. Die Gesellschaft ist zumindest so gespalten wie vor einem Jahr nach dem Brexit-Votum. Die Wahl hat diese Gräben weiter vertieft.

May rief im April entgegen früherer Beteuerungen ohne Not Neuwahlen aus. In Umfragen lagen die Konservativen mit mehr als 20 Prozentpunkten Vorsprung fast uneinholbar vor der Labour-Partei unter Oppositionschef Jeremy Corbyn. Die Regierungschefin wollte sich für die anstehenden Brexit-Verhandlungen mit Brüssel ein eindeutiges Mandat verschaffen und die Mehrheit im Parlament ausbauen. Am Freitag nun, so war der Plan, wollte sie vors Volk treten und einen historischen Sieg feiern. „Sie ging ein hohes Risiko ein und hat sich verzockt“, lautete stattdessen der Tenor auf der Insel.

Trotz Rücktrittsforderungen von allen Seiten gab sich die 60-Jährige aber an der Seite ihres Mannes Philip betont standhaft. Nachdem sie im Buckingham-Palast die formelle Erlaubnis für die Regierungsbildung bei Königin Elizabeth II. eingeholt hatte, trat sie am Mittag vor die Presse. Wer jedoch erwartet hatte, dass sie auf ihre krachende Niederlage mit einer beschwichtigenden Ansprache an das Volk reagieren würde, sah sich getäuscht. Sie wolle mit Unterstützung der nordirisch-unionistischen DUP (Democratic Unionist Party) eine Regierung formen, so ihre Ankündigung. Lediglich die Konservativen und der Koalitionspartner hätten die Fähigkeit und den Auftrag, dem Land die dringend notwendige Stabilität zu verschaffen.

Einer der anwesenden Fotografen verdrehte die Augen. Zu ähnlich klang das zu ihrer Mantra-artig verbreiteten Botschaft der „starken und stabilen Führung“, die sie in den vergangenen Wochen zu betonen nicht müde wurde. Kein Wort zur Hängepartie, in der die Tories nun stecken. Kein Wort zur Versöhnung an das zerrissene Land. Kein Wort der Selbstkritik. Als „Königin des Verdrängens“ verspottete die Zeitung „Evening Standard“ sie, weil sie schlichtweg „das Desaster ignoriert“.

Statt May ist es nun Labour-Chef Jeremy Corbyn, der jubelt. Ausgerechnet der 68-jährige Alt-Linke, der von der rechtskonservativen Presse über Monate scharf attackiert wurde und selbst innerhalb der Partei hoch umstritten ist, hat es geschafft, die Jugend zu mobilisieren und zu begeistern. Corbyn, der Mann mit dem weißen Vollbart und den unumstößlichen Prinzipien, wirkte anders als May authentisch und bot den Wählern eine positive Kampagne, die sich vor allem auf soziale Gerechtigkeit fokussierte.

Als lebenslanger EU-Skeptiker vermied er das Thema Brexit so gut es ging. Und doch könnte der Erfolg der Labour-Partei, die sich für einen Verbleib im gemeinsamen Binnenmarkt ausgesprochen hat, dafür sorgen, dass Theresa May sich mit ihrer harten Brexit-Linie nicht durchsetzt. „Das Ergebnis zeigt, dass die Menschen eine andere Vorstellung von einem Großbritannien außerhalb der EU haben als May“, sagt Simon Hix, Politikwissenschaftler an der London School of Economics. Er erwartet, dass sich nun auch die moderaten Kräfte innerhalb der konservativen Partei wieder melden. Jene EU-Anhänger, die nach dem Brexit-Votum von den EU-Skeptikern und Theresa May zum Schweigen gebracht wurden, „werden nun nach vorne treten und eine Umkehr des Brexit-Kurses fordern“, prophezeit Hix.

Ein Machtkampf innerhalb der Tories? Schon jetzt laufen Wetten, wie lange sich May angesichts der geschwächten Position in ihrem Amt halten kann. Weitere Wahlen innerhalb der nächsten zwei Jahre, „vielleicht sogar schon 2018“, gelten als wahrscheinlich. Andere meinen, sie überstehe nicht einmal dieses Wochenende. Aber zum jetzigen Zeitpunkt würde sich ein Wechsel in der Downing Street schwierig gestalten angesichts der knapp bemessenen Zeit, die für die Scheidungsgespräche bleiben, meint der renommierte Politexperte Tony Travers.

In wenigen Tagen sollten die Verhandlungen mit den 27 übrigen Mitgliedstaaten eigentlich beginnen. Das Problem: „Ihre Position ist nun sehr viel schwächer und die Partner wissen das“, so Travers. Seiner Meinung nach habe sowohl das Brexit-Votum als auch diese Wahl „den Zorn der Menschen gegen den Politapparat“ zum Ausdruck gebracht.

Theresa Mays Kampagne, die komplett auf sie zugeschnitten war, geht derweil als „schlechteste in die Geschichte der Tories“ ein, wie es am Freitag unaufhörlich auf den Fluren von Westminster hieß. Ungelenk, zaudernd, verkrampft – May patzte und präsentierte sich als miserable Wahlkämpferin mit einem schlechten Manifest, von dem sie einige Teile nach einem öffentlichen Sturm der Entrüstung wieder zurücknahm.

Am Ende hinterlässt diese Wahlnacht etliche Verlierer, selbst unter den politischen Schwergewichten. Nick Clegg, der ehemalige Vize-Premier von den europafreundlichen Liberal-Demokraten, hat seinen Sitz genauso verloren wie der ehemalige Ministerpräsident Schottlands, Alex Salmond. Einst verkörperte er wie kein anderer den Willen zur Unabhängigkeit des nördlichen Landesteils. Nun straften die Wähler den Ex-Chef der Schottischen Nationalpartei (SNP) ab. Auch Angus Robertson, bislang SNP-Fraktionschef, verlor sein Mandat. Die Partei ist künftig mit 21 Sitzen weniger im Unterhaus vertreten.

Regierungschefin Nicola Sturgeon schob das enttäuschende Abschneiden der SNP „zweifellos“ auch auf die Pläne, ein zweites Referendum über die Eigenständigkeit Schottlands abhalten zu wollen. Laut Umfragen lehnt ein Großteil der Menschen in dem nördlichen Landesteil sowohl die Abspaltung vom Königreich als auch eine neuerliche Abstimmung darüber ab.

Der Plan von May lautete, mit ihrer harten Brexit-Linie die rund vier Millionen Ukip-Stimmen zu übernehmen, die die rechtspopulistische Partei bei der Abstimmung vor zwei Jahren erhalten hat. May attackierte sogar traditionelle Labour-Hochburgen in Nordengland – ein Novum. Doch die Rechnung ging nicht auf. Anstatt zu den Konservativen überzulaufen, stimmte der Großteil für die Labour-Partei. Und Ukip? Ist Opfer des eigenen Erfolgs. Die EU-feindliche Partei hatte mit dem Ansetzen eines Referendums und dem Brexit-Votum ihr wichtigstes Ziel erreicht. Parteichef Paul Nuttall trat am Freitag umgehend zurück, nachdem die Rechtspopulisten keinen einzigen Sitz gewinnen konnten.

Doch auch wenn im Labour-Lager Feierstimmung herrscht, etliche Briten haben ohne Leidenschaft oder Emotion gewählt, wie Umfragen ergaben. So machte etwa der 20-jährige Tom aus Protest seinen Stimmzettel ungültig. „Keiner der beiden hat es verdient, Premierminister zu sein.“ Auf der einen Seite stehe mit Jeremy Corbyn ein Kommunist, auf der anderen Seite eine Frau, die die Fuchsjagd unterstütze und das Internet zensieren wolle. „Es ist eine Schande für dieses Land, dass das unsere beiden besten Kandidaten sein sollen“, empörte sich der Student über mangelnde Alternativen in Großbritannien.

Elmo, der Kandidat im roten Plüschkostüm, wurde offenbar nicht als seriöse Alternative betrachtet, er erhielt nur drei Stimmen. Lord Buckethead brachte es dagegen auf 249 und freute sich so überschwänglich, wie das mit einem Eimer auf dem Kopf möglich sein kann – anders als seine alte und neue Abgeordnete im Parlament, Theresa May.

Die Regierungsbildung

Die Wahl hat ein „hung parliament“ hervorgebracht – ein „Parlament in der Schwebe“, in dem keine Partei eine absolute Mehrheit hat. In Deutschland ist das normal, auf der Insel aber die Ausnahme. Und so geht es weiter: Die Queen hat Premierministerin Theresa May beauftragt, eine Mehrheit zu organisieren. Geplant ist eine Minderheitsregierung, die von der nordirischen DUP unterstützt wird. Rechnerisch benötigt eine Regierung mindestens 326 der 650 Sitze im Parlament. Tories und DUP zusammen liegen darüber. Sollte May keine Chance auf eine Regierung unter ihrer Führung sehen, reicht sie ihren Rücktritt ein. In diesem Fall dürfte die Queen Oppositionsführer Jeremy Corbyn auffordern, mit seiner Labour-Partei eine Regierungsbildung zu versuchen und ein Regierungsprogramm zu zimmern. Als Staatsoberhaupt mischt sich die Queen in all das übrigens nicht ein, sie ist politisch neutral. Sie liest in der „Queen?s Speech“ aber das Regierungsprogramm vor. Geplant ist das für den 19. Juni. Es folgen fünf Tage Debatte im Unterhaus, dann wird abgestimmt. Sollte die Regierungsbildung scheitern, hätte die Gegenseite das Recht auf den nächsten Versuch. Schafft es niemand, ein Programm durchs Parlament zu bekommen, muss womöglich neu gewählt werden. Die Democratic Unionist Party (DUP), die die konservative Minderheitsregierung dulden soll,ist die wichtigste protestantisch-unionistische Partei in Nordirland. Sie wurde 1971 von dem als politischer Hardliner geltenden protestantischen Pfarrer Ian Paisley (1926-2014) gegründet. Derzeit wird sie von Arlene Foster geführt. Die DUP setzt sich strikt für den Erhalt der Einheit des Vereinigten Königreichs ein und vertritt im Nordirland-Konflikt die pro-britische Seite. Die DUP befürwortet den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Beim Brexit-Referendum, bei dem Nordirland insgesamt für den Verbleib in der EU stimmte, hatten vor allem Gebiete der Unionisten für den Austritt votiert. Foster sprach sich aber wegen der besonderen Situation des einstigen Bürgerkriegslands an der Grenze zur Republik Irland gegen einen „harten“ Brexit aus, der Grenzkontrolle über die Zugehörigkeit zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion stellt. Nach einem Brexit verläuft nämlich eine EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland, die Nordiren befürchten dann wirtschaftliche Nachteile und Probleme, wenn sie ihre Verwandten auf der anderen Seite besuchen wollen. Seit Wochen verhandeln die DUP und die katholisch-republikanische Sinn Fein, die sich seit 2007 die Macht teilen, erfolglos über eine neue Regierungskoalition in Belfast. Aus der Parlamentswahl im März gingen die Unionisten nur noch mit hauchdünnem Vorsprung als stärkste Partei hervor. Das Bündnis war im Januar im Streit über ein Förderprogramm für erneuerbare Energien zerbrochen. dpa
 
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