zurück
The Rolling Stones: Schöne Freunde
The Rolling Stones: Die Band wird 50. Mein Leben mit ihr reicht zurück in eine Zeit, als man bei Klingeltönen noch an Fahrräder dachte. Ich bin bis heute treu. Eine Liebeserklärung.
Die alten Stones – und auch dasBild entstand schon vor sieben Jahren: Charlie Watts (heute 71), Keith Richards (68),Mick Jagger (68) und Ron Wood (65) Fotos: dpa
| Die alten Stones – und auch dasBild entstand schon vor sieben Jahren: Charlie Watts (heute 71), Keith Richards (68),Mick Jagger (68) und Ron Wood (65) Fotos: dpa
Von unserem Mitarbeiter Franz Neuhäuser
 |  aktualisiert: 11.07.2012 10:44 Uhr

Ich habe die Rolling Stones am 16. Juni 1976, kurz vor 22 Uhr, zum ersten Mal in meinem Leben live gesehen. Ich war 19 Jahre alt und mir war klar: Ich war spät dran, es würde auch mein letztes Stones-Konzert sein. Denn die Rolling Stones waren alt. Eine Ewigkeit im Geschäft.

Sie hatten 1962 begonnen, als ich fünf Jahre alt war. Jetzt war Mick Jagger schon etwas über dreißig. Charlie Watts noch weiter drüber. Von Bill Wyman wurde gemunkelt, er habe sein Geburtsdatum gefälscht. Er sei an die vierzig. Oder drüber. Und Keith Richards? Demnächst, nächsten Monat, spätestens nächstes Jahr, würde auch in meiner Heimatzeitung zu lesen sein: Gitarrenspieler der Musikgruppe Rolling Stones stirbt Drogentod. So wie „Keef“ an dem Abend in der Münchner Olympiahalle aussah??

Keith Richards ist heute 68. Ich habe ihn und die Stones seit 1976 noch rund ein Dutzend Mal live gesehen und gehört. Warum? Warum habe ich (fast) alle ihre Platten gekauft, warum habe ich Bücher über sie gelesen, warum forsche ich auch heute noch fast täglich im Internet nach Neuigkeiten?? Warum lässt sich Liebe so schwer erklären?

Meine erste Schallplatte, die ich Anfang der Siebziger von meinem Vermögen als Bafög-unterstützter Schüler erstand, war: „Sergeant Pepper“ von den Beatles. Meine Kumpels waren enttäuscht. Sergeant Pepper – eine uralte Platte, mehr als vier Jahre alt, die Beatles, eine Gruppe von gestern, die sich gerade aufgelöst hatte. Meine Freunde hätten es lieber gesehen, wenn ich mir „Led Zeppelin IV“ oder „Deep Purple in Rock“ zugelegt und ihnen ausgeliehen hätte.

Ich hörte mir „Sergeant Pepper“ schön. Meine Platte, mein Schatz. Ich bewunderte die Raffinesse, die Vielfalt, den ausgeklügelten Sound.

Der Bertelsmann-Lesering veränderte mein Leben. Meine Eltern waren Mitglieder in dem Buchklub. Schon als Kind durfte ich die Bücher auswählen, die man vierteljährlich abnehmen musste. Ich kaufte eine umfangreiche Karl-May-Sammlung zusammen. Irgendwann nahm Bertelsmann auch Schallplatten in sein Programm auf.

Ich bestellte „Big Hits – High Tide And Green Grass“ von den Rolling Stones – ohne große Erwartungen. Ich hatte „Satisfaction“ im Radio gehört. Der Song war okay. Oder mehr als das. Aber waren die Stones besser als die Beatles?

Sie waren anders, ganz anders. Nicht so perfekt, nicht so harmonisch. Die Platte war rumpelig, ruppig, holprig, irgendwie halb fertig, leicht schräg. Es war mitreißend, es war aufregend. Ich war jetzt Fan.

Fotoserie
Natürlich hat mich auch das Image der Stones fasziniert: fünf freche, aufmüpfige Burschen, die der Welt die Ätsch-Zunge zeigen. Kerle, die in einer Welt von Sex and Drugs and Rock and Roll lebten. Welcher 15-Jährige wollte ihnen nicht nacheifern? Geschafft haben wir es nicht so wirklich. Sex? An und für sich – ja. Aber mit Mädchen – schwierig. Drugs? In unserer Landdisco gab's Weizenbier und Geißenmaßen.

Blieb der Rock 'n' Roll. Aber auch an den war schwer zu kommen. Ja, liebe Kinder, unvorstellbar, aber wahr: Ich wuchs in einer Welt ohne Internet auf, ohne Downloads, ohne MP3. Ich hatte nicht mal MP1, und Klingelzeichen kamen nur von meinem Fahrrad.

Meine Schulkameraden und mich zog es magisch in Plattenläden. Das waren keine fußballfeldgroßen Hallen, in denen auch Waschmaschinen und Brotschneidegeräte rumstehen. Hier wurde nur pures Vinyl gehandelt. Der König des Plattenreichs war der Mann hinter der Theke. Ihm überreichten wir mit demütig gesenktem Blick die Scheibe unserer Wahl, in die wir, „murmel, murmel . . . mal reinhören . . . murmel“ wollten.

Ein ritueller Vorgang, immer aufregend. Wie er die Platte behutsam aus der Hülle streifte, wie er sie vorsichtig auf den Plattenteller legte, wie er zärtlich den Tonabnehmer aufsetzte. Und wir stülpten ergriffen den Kopfhörer über.

Mein erster Plattenspieler daheim schepperte selbstverständlich streng mono. Die wunderbare Welt der Stereofonie eröffnete sich mir erst unter einem Kopfhörer im Plattenladen. Die Minuten, als ich erstmals die Live-Platte „Get Yer Ya-Ya's Out“ hörte – bislang Ungehörtes offenbarte sich. Die Stones waren noch viel besser, noch viel lauter, noch viel rauer als bislang geglaubt.

Dennoch gab ich mich auch in dem Moment ganz gelangweilt. Ich sagte „murmel, murmel . . . doch nicht so gut . . . murmel“ und machte mich schnell davon. Nur die ganz Frechen unter uns hätten sich erdreistet, den König zu bitten, die Platte umzudrehen. Gekauft haben wir ohnehin nur selten ein Album. Die finanziellen Verhältnisse waren (noch) nicht danach.

Wer die neue Uriah Heep, die neue Jethro Tull besaß, der war der Chef auf dem Schulhof. „Kannst du mir die mal leihen?“ – „Mach bloß keinen Kratzer rein.“ Wer keine Platten hatte, saß nervös vor dem Radio, den Finger am Kassettenrekorder. Bloß nicht den Einsatz verpassen. Oh, der Depp von Moderator hat wieder reingequasselt. Aufnahme versaut, zurückspulen, warten, bis sie wieder was Gutes spielen, noch mal versuchen.

Am 10. Juni 1982 habe ich die Rolling Stones zum zweiten Mal live gesehen. Die Dinge hatten sich verändert. Die Olympiahalle war ihnen zu klein geworden, sie füllten jetzt nebenan das Olympiastadion. Ich bekam kein Bafög mehr, ich hatte geheiratet (ich musste – die Bundeswehr war hinter mir her . . ., aber ich hab's nie bereut; meine Frau begleitete mich loyal zu allen Stones-Konzerten), ich war Zeitungsredakteur. Einer meiner ersten Artikel war im Sommer 1978 eine Besprechung der Stones-Platte „Some Girls“ gewesen. Ein ziemlicher Verriss. Ich hatte irgendwas von „alter Schwung ist hin“ in meine Adler gehämmert (eine Adler? was ist eine Adler? Ach Kinder . . .).

Heute weiß ich: „Some Girls“ war die letzte wirklich wichtige Stones-Platte. Was danach kam – ein paar Sachen waren ordentlich. Aber ein großer Wurf war nicht mehr dabei. Richtig schlecht, völlig peinlich wurden die Stones aber auch nie. Ich habe jedenfalls nie die Hoffnung aufgegeben. Wie der Typ, der im Kino einsam bis zum Ende des Abspanns sitzen bleibt. Vielleicht kommt ja noch was

Es kamen im Laufe der Jahre immer größere, immer bombastischere Konzerte. Ausfahrbare Brücken, aufblasbare Puppen, Feuer speiende Bühnenaufbauten, Videowände groß wie Häuserfronten. Eine kleine Rock-'n'-Roll-Kombo war aufgestiegen zum größten Showact der Welt. Und ich musste nicht hungern, wenn sie mir mehr als hundert Mark (später: Euro) für Karten abknöpften. 1999 habe ich mir sogar eine Reise nach London geleistet, um sie im Wembley-Stadion zu erleben. Das Show-Brimborium habe ich belustigt hingenommen. Spannend war für mich immer ihr Drahtseilakt zwischen Grauselig und Grandios, zwischen Schön und Schaurig. Bewundernswerte Virtuosen waren die Stones nie. Manchen Einsatz haben sie versemmelt, manchen Ton verfehlt, manchen Song verhunzt.

Aber da gab es auch diese großen, magischen Momente. Wie damals, bei meinem Besuch in London, als Keith in der milden Abendsonne sein „You Got The Silver“ ins Mikro krächzte, wie in München, als sie das Konzert mit „Not Fade Away“ begannen. „I'm gonna tell you how it's gonna be . . .“.

Die Stones wurden älter und reicher. Was mir gefallen hat: Sie blieben immer frech und unabhängig. Sie ließen sich von VW eine Tour sponsern – und Mick Jagger erklärte ungerührt: „Privat fahre ich lieber Mercedes.“ Sie kassierten in den USA von einer Telefonfirma ab – und Keith Richards sagte, er benutze nie Handys. Die Strahlung! „Da kann ich meinen Kopf ja gleich in eine Mikrowelle stecken.“ Keith Richards besorgt um seine Gesundheit. Ein großartiger Witz.

Am 13. Juni 2007 habe ich die Rolling Stones zum bisher letzten Mal gesehen. Es war nicht lustig. Der Sound im Frankfurter Fußballstadion – ein undefinierbarer Matsch. Die Stones – außer Form. „Sympathy For The Devil“ haben sie regelrecht massakriert. Keith Richards hatte im Jahr davor eine komplizierte Gehirnoperation überstanden. Er war angeblich von einer Palme gestürzt und auf den Kopf gefallen. Da stand kein drogenvernebelter Rebell auf der Bühne, sondern ein tapsiger, älterer Mann, leicht desorientiert. Es war traurig.

Ich war 50 Jahre alt und mich beschlich das Gefühl, auch meine Jugend sei vorbei. Ich befürchtete, es könnte mein letztes Stones-Konzert gewesen sein.


Die wichtigsten zehn Stones-Alben

(chronologisch, von links oben nach rechts unten)

1964 „England's newest hit makers“ Der Erstling – klassischer R'n'B

1966 „Aftermath“ Die erste richtige LP – zuvor war alles nur zusammengewürfelt

1968 „Beggars Banquet“ Beginn der besten Stones-Phase

1969 „Let it bleed“ Fortsetzung der besten Stones-Phase

1970 „Get yer ya-ya's out!“ (live) Auch auf der Bühne in Hochform

1971 „Sticky fingers“ Neue Zwischentöne dank Mick Taylor

1972 „Exile on Main St“ Nie klangen die Stones besser, als in diesem Keller in Südfrankreich

1978 „Some Girls“ Das große Aufbäumen

1981 „Tattoo you“ Resteverwertung auf hohem Niveau

1995 „Stripped“ (live) Gelungenes Recycling, größtenteils unplugged

Die frühen Stones: Die undatierte Aufnahme zeigt von oben im Uhrzeigersinn: Mick Jagger, Charlie Watts, Keith Richards, Brian Jones und Bill Wyman.
| Die frühen Stones: Die undatierte Aufnahme zeigt von oben im Uhrzeigersinn: Mick Jagger, Charlie Watts, Keith Richards, Brian Jones und Bill Wyman.
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Bertelsmann AG
Bill Wyman
Charlie Watts
Deep Purple
Drogentod
Freunde
Internet
Jethro Tull
Karl May
Keith Richards
Led Zeppelin
Liebeserklärungen
Mick Jagger
Mick Taylor
The Beatles
The Rolling Stones
Uriah Heep
VW
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen