Erstklässler flüchten weinend ins Freie, Mütter suchen tränenüberströmt nach ihren Kindern. Schwer bewaffnete Soldaten umzingeln den Tatort – eine Schule, von der Hunderte Schwerverletzte abtransportiert werden. Es sind bestürzende Szenen an diesem Dienstagmorgen in Pakistans nordwestlicher Millionenstadt Peshawar, wo islamistische Talibankämpfer sich über Stunden mit 500 Geiseln verschanzen. Die vorläufige Bilanz am Nachmittag, nach der Erstürmung durch Militär und Polizei: mindestens 132 Tote, darunter mindestens 125 Kinder und Jugendliche.
Es ist einer der schwersten Anschläge seit Jahren in dem Atomstaat mit seinen schätzungsweise knapp 190 Millionen Einwohnern. Zu der Bluttat an den Minderjährigen bekennen sich die Islamisten von Tehrik-i-Taliban (TTP), ein loser Verbund radikaler Gruppen. Ihr Motiv: Rache. Denn die Schule mit rund 1000 Kindern und Jugendlichen – darunter auch Mädchen – wird vom Militär betrieben, ihrem verhassten Gegner. „Wir wollen, dass sie den Schmerz fühlen, den wir fühlen“, sagt einer ihrer Sprecher laut örtlichen Medien.
Seit Monaten liefern sich die Taliban, deren Stärke Experten auf mehrere Zehntausend schätzen, erbitterte Gefechte mit Regierungssoldaten. Die Armee hat in ihren Stammesgebieten im Nordwesten vor Monaten eine groß angelegte Offensive gestartet.
Ministerpräsident Nawaz Sharif zeigt sich schockiert und beklagt eine „nationale Tragödie“. Der Regierungschef eilt an den Tatort und ordnet eine dreitägige Staatstrauer an. Einschüchtern lassen will er sich nicht: Der Einsatz gegen die Extremisten werde unbeirrt fortgesetzt, versichert er.
Die im Juni angelaufene Offensive hat ein langes Zögern beendet. Kritiker werfen dem Militär vor, jahrelang nur halbherzig gegen Extremisten vorgegangen zu sein: Gruppen, die Ziele im Land angriffen, würden zwar bekämpft. Militante Organisationen, die von Pakistan aus in Afghanistan oder Indien operierten, würden aber aus strategischen Gründen geschont. Der Militärgeheimdienst ISI hat nach Einschätzung vieler Experten den Taliban in Afghanistan sogar einst zur Macht verholfen.
Die Taliban haben in den letzten Monaten verstärkt Schulen mit Bomben und Terrorkommandos angegriffen. Sie gelten als „weiche“, leicht zu attackierende Ziele, weil sie zumeist gar nicht oder nur spärlich gesichert sind. Besonders gefährdet sind reine Mädchenschulen, die den streng gläubigen Dschihadisten ein Dorn im Auge sind.
Kampf gegen unislamische Lehre
Generell sind den Taliban staatliche und private Schulen verhasst, weil sie aus ihrer Sicht „westlicher Dekadenz“ Vorschub leisten und unislamische Lehren verbreiten. Das musste etwa die 17-jährige Nobelpreisträgerin und Vorkämpferin für Mädchenrechte, Malala Yousafzai, leidvoll erfahren: Ihr schossen die Taliban vor Jahren ins Gesicht. Am Dienstag steht auch sie unter Schock. „Dieser sinnlose und kaltblütige Terrorakt in Peshawar, der sich vor unseren Augen abspielt, bricht mir das Herz“, erklärte sie in London.
Im Norden und Nordosten des Landes wurden nach offizieller Zählung seit 2009 mehr als 1000 Schulen von Extremisten angegriffen. In vielen Fällen werden die Gebäude nachts in die Luft gesprengt, sodass die Schüler oft länger unter freiem Himmel unterrichtet werden. Die wiederkehrenden Attacken sind ein Grund dafür, dass nicht einmal die Hälfte der Kinder im Alter zwischen fünf und 16 Jahren in Pakistan zur Schule geht. Besonders die Eltern in Dörfern, wo die Taliban stark vertreten sind, haben einfach zu viel Angst. Nach Angaben der lokalen Menschenrechtskommission ist Pakistan der Staat mit dem geringsten Anteil von Kindern, die eine Schule besuchen – nach Nigeria, wo die Terrorgruppe Boko Haram ebenfalls mit Tod und Gewalt gegen westliche Bildung wütet.
Terror gegen Kinder – Angriffe von Islamisten auf Schulen
1. September 2004: Schwer bewaffnete Terroristen nehmen in der Schule von Beslan im Nordkaukasus über 1100 Geiseln. Zwei Tage später endete das Drama in einer Schießerei mit Sicherheitskräften. Zu den über 360 Toten zählen auch 186 Kinder. Als Drahtzieher werden zwei tschetschenische Untergrundführer sowie ein arabischer Terrorist namens Abu-Said genannt. 6. März 2008: Ein als orthodoxer Jude verkleideter Palästinenser dringt in eine jüdische Religionsschule in Jerusalem ein und schießt um sich. Die radikalislamische Hamas bekennt sich wenig später zu dem Anschlag mit insgesamt neun Toten. 10. November 2014: Ein Anschlag auf eine Schule im nordnigerianischen Potiskum reißt mindestens 47 Menschen in den Tod. Das Attentat trägt die Handschrift der Gruppe Boko Haram, die immer wieder Schulen angreift. Der Name bedeutet übersetzt etwa „westliche Erziehung ist Sünde“. Im April 2014 entführten Boko-Haram-Terroristen im Ort Chibok rund 230 Schülerinnen. Von den meisten fehlt bis heute jede Spur. 11. Dezember 2014: Während einer Theateraufführung in einer Schule in der afghanischen Hauptstadt Kabul sprengt sich ein jugendlicher Selbstmordattentäter in die Luft. Unter den Opfern ist ein getöteter Entwicklungshelfer aus Deutschland. Text: dpa