Für Deutsch einige Seiten aus Goethes Roman ,Die Leiden des jungen Werthers’ gelesen. Abends Rede von Hitler gehört. Wir warteten alle darauf, dass er Maßnahmen gegen die deutschen Juden ergreifen würde wegen des Attentates in Paris, bei welchem ein 17-jähriger jüdischer Junge von polnischer Staatsangehörigkeit einen deutschen Legationsrat niederschoss und schwer verwundete.“ Es war der 8. November 1938, ein Dienstag, als der 19-jährige Schüler Mischael Rosenberg aus Wiesbaden diese Sätze in sein Tagebuch schrieb.
Rosenberg besuchte die Israelitische Lehrerbildungsanstalt (ILBA) in Würzburg und wohnte im ILBA-Internat in der Bibrastraße 6, nur wenige Schritte von der Hauptsynagoge in der Domerschulstraße entfernt. Am nächsten Tag erlag der Diplomat Ernst vom Rath seinen Verletzungen.
Wie alljährlich hatte sich am 9. November 1938 die gesamte NS-Prominenz in München versammelt, um des gescheiterten Hitlerputsches vom November 1923 zu gedenken. Als Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels beschlossen, den Tod vom Raths zum Anlass für einen großen Schlag gegen die deutschen Juden zu nehmen, waren somit die wichtigsten Führer der Partei und der NSDAP-Gliederungen wie SS und SA vor Ort, um die entsprechenden Anordnungen auf schnellstem Weg an ihre untergeordneten Stellen im ganzen Reich weiterzugeben. Dies erklärt, warum die angebliche „spontane Protestaktion“ überall mit solch perverser Präzision ablief.
Im Verlauf weniger Stunden zerbrach in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und in den folgenden Tagen bei den deutschen Juden der Glaube daran, dass es für sie vielleicht doch noch eine Zukunft im nationalsozialistischen Deutschland geben könnte.
Der mehrtägige blutige Pogrom, der unter dem verharmlosenden Namen „Reichskristallnacht“ in die Geschichte einging und heute meist Reichspogromnacht oder Pogromnacht genannt wird, markierte den Übergang von der Diskriminierungs- zur Vernichtungspolitik. Freilich ist auch die neue Bezeichnung problematisch, denn die wüste, von oben organisierte Zerstörungsorgie dauerte nicht eine Nacht, sondern vielerorts mehrere Tage. Das meiste spielte sich nicht etwa im Schutz der Dunkelheit, sondern am helllichten Tag vor den Augen der Bürger ab.
Aufgeputschte Nationalsozialisten und ihre Sympathisanten ermordeten mehrere Hundert Menschen oder trieben sie in den Selbstmord. Rund 30 000 jüdische Männer wurden verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt; viele überlebten die Lagerhaft mit Schwerstarbeit und stundenlangem Appellstehen nicht. Über 1400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie Tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört.
Auch in Unterfranken endete weitgehend das geordnete jüdische Gemeindeleben. Die Auswanderung entwickelte sich zur Massenflucht.
Um 23.55 Uhr ging am 9. November 1938 in Würzburg der erste Zerstörungsbefehl aus der Gestapo-Zentrale in Berlin ein. „Es werden in kürzester Frist Aktionen gegen die Juden, insbesondere gegen deren Synagogen stattfinden. Sie sind nicht zu stören“, hieß es in dem Fernschreiben. Sogar die Zahl der festzunehmenden Personen („20 000 bis 30 000“) stand zu diesem frühen Zeitpunkt bereits fest.
Um Mitternacht gab der mainfränkische NSDAP-Gauleiter und Regierungspräsident Otto Hellmuth aus München telefonisch seine Anweisungen an die Würzburger Parteileitung durch.
Gegen 2 Uhr trafen sich im Gestapo-Hauptquartier in der Ludwigstraße Polizeivertreter mit NSDAP-Kreisleiter Franz Xaver Knaup und besprachen die Aufgabenverteilung. Gleich anschließend rief Knaup die Würzburger Ortsgruppenleiter zu sich, unterrichtete sie darüber, dass „eine Volkserhebung gegen die Juden im Gange“ sei, dass alle Kräfte der Ortsgruppen zu mobilisieren seien und dass sie dafür zu sorgen hätten, dass „diese Volkserhebung immer mehr um sich“ greife. SA und SS mobilisierten ihre Mitglieder auf ähnliche Weise.
Die Würzburger NSDAP-Ortsgruppe Süd stand am Donnerstag um 7 Uhr mit 1000 Mann auf dem damaligen Kickers-Platz in der Randersackerer Straße marschbereit. In der Nacht waren hektografierte Zettel verteilt worden, mittels derer jedem Mitglied das Erscheinen zur Pflicht gemacht wurde: „Entschuldigungen sind ausgeschlossen.“ Vom Kickers-Platz aus durchkämmten die Nationalsozialisten in Marschzügen den Stadtteil Sanderau, demolierten jüdische Wohnungen und setzten Bewohner fest.
Der in der Scheffelstraße 5 wohnende kränkliche Weinhändler Ernst Lebermann wurde lebensgefährlich verletzt. Die fanatisierten NSDAP-Mitglieder zerrten ihn aus dem Haus, schlugen und traten ihn. Der 63-Jährige, der unter seinem Mantel noch immer das blutbefleckte Nachthemd trug, musste an die Spitze der Marschkolonne gehen und wurde im Landgerichtsgebäude in der Ottostraße abgeliefert, wo sich bereits zahlreiche weitere jüdische Männer befanden. Wie alle anderen wurde Lebermann im Gefängnishof fotografiert. Wenig später brach er zusammen. Am 11. November starb er im jüdischen Krankenhaus.
Ein Zerstörungskommando suchte auch das ILBA-Wohnheim in der Bibrastraße heim. Nachdem alles kurz und klein geschlagen war, hörte Mischael Rosenberg den Ruf „Diesmal die Möbel, das nächste Mal ihr!“ Auch dies ist in seinem Tagebuch nachzulesen.
Genau instruierte Parteimitglieder, SA- und SS-Männer sowie Gestapoleute waren es also vor allem, die die bisher brutalste antijüdische Verfolgungsmaßnahme in Deutschland seit dem Mittelalter ins Werk setzten.
An der Residenz setzte sich ein Zug in Bewegung, der, gefolgt von einer neugierigen Menge, jüdische Geschäfte und Kaufhäuser in der Semmel-, Eichhorn-, Schönborn- und Domstraße zerstörte. Anschließend verschafften sich die Trupps Zugang zur Hauptsynagoge, schalteten die Festbeleuchtung an und zertrümmerten die Einrichtung. Ritualgegenstände wurden im Hof verbrannt; das Gotteshaus zündete man wegen der umliegenden dichten Bebauung nicht an.
Prominentester Nationalsozialist in der Synagoge war der Würzburger Universitätsrektor und SA-Obersturmbannarzt Professor Ernst Seifert.
Die Synagoge im Stadtteil Heidingsfeld, ein prächtiger Barockbau, ging in Flammen auf. In den Worten eines Augenzeugen glich sie „einer riesenhaften Fackel in der Hand eines Riesen“, als sie am 10. November um 2.30 Uhr in Brand gesetzt wurde. Noch am Abend schlugen die Flammen hoch über die Dächer der umliegenden Häuser.
Am 12. November wurden 130 Würzburger Männer in das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar eingeliefert. Wenige Stunden später waren bereits ein Mann aus Würzburg und einer aus dem nahegelegenen Reichenberg tot. 160 weitere Häftlinge wurden ins KZ Dachau transportiert. Auch zwei Tote aus Geroda (Lkr. Bad Kissingen) und einer aus Wiesenbronn (Lkr. Kitzingen) sind dokumentiert.
In Aschaffenburg wurde gegen 5.50 Uhr an diesem Donnerstag der Kaufmann Alfons Vogel in den Stadtpark Fasanerie verschleppt und dort von einem SS-Mann mit mehreren Pistolenschüssen so schwer verletzt, dass er eine Woche später im Krankenhaus starb. Die Synagoge stand in Flammen; eine jüdische Frau, die von ihrem Fenster aus das Feuer beobachtete, erlitt einen Gehirnschlag, von dem sie nicht genas. Sie starb im Jahr 1940.
Auch in der Schweinfurter Synagoge wurden sämtliche Möbel und die Ritualien zertrümmert. An einem Baum im Hof des Gotteshauses befestigten Männer einen Strick und schrien: „Daran wollen wir den Rabbi hängen!“
Einen einmaligen Charakter nahmen die Tage der Schande in Hofheim (Lkr. Haßberge) an. Hier wurden jüdische Männer aus der ganzen Gegend im Gefängnis festgehalten. Täglich mussten sie mit dem Transparent „Kolonne Grünspan lernt arbeiten!“ zu Arbeitseinsätzen marschieren. Herschel Grünspan war der Name jenes jungen Mannes, der Ernst vom Rath getötet hatte.
In Kitzingen wurden die Männer straßenweise verhaftet und an der brennenden Synagoge vorbeigeführt. Dort riefen Gaffer: „Werft sie ins Feuer hinein!“ Am Morgen, als das Gotteshaus in hellen Flammen stand, versammelten sich viele Bürger auf dem Platz davor. Obwohl das Fotografieren streng verboten war, entstanden mehrere Aufnahmen. Einige entdeckte Herbert Brandner aus Mainstockheim (Lkr. Kitzingen) vor einigen Jahren zufällig, als er ein Album mit historischen Fotos erwarb.
Nachdem die Bad Kissinger Synagoge in Brand gesteckt und zahlreiche Wohnungen und Geschäfte verwüstet waren, wurden am Nachmittag des 10. November einige der 28 inhaftierten Bad Kissinger Juden wie Schwerverbrecher aneinandergekettet und vom Amtsgerichtsgefängnis durch die Stadt zum jüdischen Friedhof geführt. Hier mussten sie an einer ihnen angegebenen Stelle graben, da die Polizei glaubte, Juden hätten auf dem Friedhof „belastendes Material“ versteckt. Stattdessen fand man jedoch nur eine Reihe unbrauchbar gewordener Thorarollen, die nach jüdischem Ritus in einem speziellen Grab beigesetzt worden waren.
Viele der in Konzentrationslagern festgehaltenen Männer mussten dort mehrere Monate ausharren. Allerdings vermochte der Nachweis des Fronteinsatzes im Ersten Weltkrieg die Entlassung aus dem KZ häufig zu beschleunigen. Auch „Arisierungsverhandlungen“ durften „durch die Inschutzhaftnahme der Besitzer oder Teilhaber nicht gestört werden“, ordnete die Würzburger Gestapo an, ebenso wenig wie die Auswanderung.
Die Haft erwies sich so als radikales Mittel zur Erzwingung von Geschäftsaufgabe und Emigration. Wenn entsprechende Bemühungen von den Zurückgebliebenen weit vorangetrieben waren, konnte das Familienoberhaupt in der Regel mit der Entlassung rechnen.
Nachdem die Geschäfte und Wohnungen zerstört und die Synagogen niedergebrannt waren, ließ sich manches kritische Wort von nichtjüdischen Bürgern vernehmen. Meist aber richtete sich diese Kritik gegen die Vernichtung von Werten, von denen man glaubte, dass man sie lieber in andere Hände hätte überführen sollen. Nur wenige waren so mutig wie Franz Hartinger, der Stadtkaplan von Bad Kissingen, der im Religionsunterricht an der Fortbildungsschule äußerte: „Mit brennenden Kirchen fing es auch in Russland an; genauso weit sind wir heute. Dies ist der Anfang vom Ende.“