Die Unterhauswahl am heutigen Donnerstag verspricht eine der spannendsten Wahlen in der Geschichte des Vereinigten Königreichs zu werden: Konservative und Sozialdemokraten liegen etwa gleichauf und jeweils weit von einer absoluten Mehrheit entfernt.
Bis um 22 Uhr Ortszeit, 23 Uhr MEZ, dürfen die Briten abstimmen. Und bis zur letzten Minute beschworen die Spitzenkandidaten, allen voran der amtierende konservative Premierminister David Cameron und sein Herausforderer von der Labour-Partei, Ed Miliband, die Wähler. Mit flammenden Reden, die Hemdsärmel hochgekrempelt, mit Selfies, um Volksnähe zu demonstrieren, durch Warnungen vor dem politischen Gegner. Cameron betonte im Endspurt den Wirtschaftsaufschwung, der den Tories zu verdanken sei.
Vor fünf Jahren hatten die Konservativen dem gefährlich verschuldeten Land einen harten Sparkurs verordnet. Großbritanniens Zukunft stehe „auf Messers Schneide“, schrieb er in der „Times“. Es gebe zwei Möglichkeiten: eine stabile Regierung unter ihm als Premier oder „Chaos“ mit Miliband. Sein mittlerweile offenbar schlagkräftigstes Argument im Wahlkampf: die drohende „Gefahr“ eines Bündnisses von Labour mit der Schottischen Nationalpartei (SNP) aus dem Norden. Dieser wird ein Erdrutschsieg prophezeit, laut Umfragen könnten die Nationalisten, deren langfristiges Ziel die Abspaltung vom Königreich ist, alle 59 Sitze in Schottland gewinnen.
Ed Miliband, der eine formelle Koalition mit der SNP ausgeschlossen hat, geißelte dagegen die Arbeit der konservativ-liberaldemokratischen Regierung als „Klientelpolitik“ für Reiche und Mächtige. Die Ungleichheiten im Land hätten enorm zugenommen, die Einkünfte der Mittelklasse seien drastisch gesunken.
Zudem hob Miliband, der seiner Partei einen Linksruck verpasst hat, erneut den Nationalen Gesundheitsdienst auf die Agenda. Dieser sei so stark gefährdet wie lange nicht, so der Oppositionsführer, an dem lange das Image des „merkwürdigen Strebers“ klebte, bevor er in den vergangenen Wochen einen beherzten und für viele Beobachter überraschend angriffslustigen Wahlkampf geführt und so auf der Popularitätsskala zugelegt hat.
Obwohl beide Spitzenkandidaten die Vorhersagen konsequent zu verdrängen versuchen: Wer regieren will, muss Bündnisse eingehen. Das betonte auch der Chef der Liberaldemokraten, Nick Clegg. Die kleinen Parteien avancieren zu Königsmachern. Es ist ein Umstand, der auf der Insel noch immer Verwirrung stiftet. Im britischen Mehrheitswahlrecht gilt das Motto: „The winner takes it all.“ Jeder Wähler in England, Schottland, Wales und Nordirland stimmt in seinem Wahlkreis für einen Kandidaten. Der Politiker, der die meisten Kreuzchen in seinem Bezirk bekommt – es gibt insgesamt 650 –, zieht ins Londoner Parlament ein. Die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten gehen verloren.
Dieses System sorgte dafür, dass seit dem Zweiten Weltkrieg stets eine der beiden Volksparteien allein regieren konnte. Bis 2010. Dann mussten die Konservativen eine Koalition mit den Liberaldemokraten bilden und auch jetzt könnte dieses Szenario infrage kommen. Wahrscheinlich müssten die Tories für eine Mehrheit dann noch die nordirische DUP ins Boot holen. Jüngste Umfragen prophezeien zwar, dass die Konservativen unter Cameron, der für viele Menschen auf der Insel das abgehobene Establishment verkörpert wie kaum ein anderer, mehr Sitze als Labour gewinnen.
Trotzdem sieht die Lage für Miliband etwas günstiger aus, weil ihm mehr Partner zur Verfügung stehen. Er könnte mit den Liberaldemokraten koalieren und sich von der linksliberalen SNP, die voraussichtlich drittstärkste Kraft wird, in einer Minderheitsregierung dulden lassen.
Dagegen dürften die Rechtspopulisten der Unabhängigkeitspartei Ukip nach einem eintönigen Wahlkampf, der fast ausschließlich die zunehmende Immigration verteufelte, trotz einer angenommenen zweistelligen Prozentzahl nicht mehr als eine Handvoll Sitze erobern.
Nur wenige Stunden vor dem Urnengang wurde einer ihrer Direktkandidaten wegen rassistischer Äußerungen aus der Partei geworfen. Ukip-Kandidat Robert Blay bezeichnete seinen Konkurrenten Ranil Jayawardena, dessen Vorfahren aus Sri Lanka stammen, als nicht britisch genug. „Wenn dieser Typ jemals unser Premierminister wird, knalle ich ihn höchstpersönlich ab“, sagte Blay.