Als Boris Johnson schnellen Schrittes durch die Bar des Midland Hotels geht, wird er von einem dumpfen Dröhnen begleitet. Die überwiegend männlichen Gäste, die sich an ihrem Pint Bier festhalten, röhren ihre Zustimmung in Richtung des Premierministers. Ein paar von ihnen recken ihre Fäuste in die Höhe, fast triumphierend. Andere nicken Johnson verschwörerisch zu. Der britische Premierminister schaut kaum nach rechts oder links. Er eilt durch den Raum. Und dann ist er auch schon wieder weg, zum nächsten Termin vor grölenden Anhängern. Er muss auf dem Parteitag seiner konservativen Tories in Manchester der Basis einheizen und sie auf Linie bringen. „Get Brexit done!“ – den Brexit durchziehen, das ist das Motto dieses Parteitags, der am Sonntag begonnen hat und am Mittwoch enden wird.
„Get Brexit done!“ Die Aufforderung, den Austritt Großbritanniens aus der EU hinter sich zu bringen, prangt nicht nur auf Plakaten und T-Shirts, die Regierung hämmert den Menschen gebetsmühlenhaft die Botschaft bei jeder Gelegenheit ein. Die Botschaft ist nicht zu überhören, doch sie tritt phasenweise in den Hintergrund – überschattet von Affären, die die konservative Selbstbeweihräucherung im Norden Englands stören. Überschattet auch von den Protesten Tausender Menschen auf den Straßen Manchesters, die den Tories gleich am Sonntag einen lautstarken Empfang bereitet haben. Mit Trommeln und Trillerpfeifen. Gegen den Brexit, aber auch gegen Kürzungen im Gesundheitssystem. Im Mittelpunkt der Kritik, natürlich, Boris Johnson. Und im Besonderen „seine Schwäche“, wie es eine ehemalige Mitarbeiterin nannte: Frauen.
So wirft ihm die „Sunday Times“-Kolumnistin Charlotte Edwardes vor, sie bei einem feucht-fröhlichen Abendessen in seiner Zeit als Chefredakteur des „Spectator“-Magazins vor knapp 20 Jahren begrapscht zu haben. Johnson habe sie ziemlich weit oben in den Oberschenkel gekniffen, erinnert sie sich. Später habe sie erfahren, dass es einer anderen Frau an dem Tag genauso ergangen sei. Downing Street wies den Vorwurf als „unwahr“ zurück. Es ist nicht die einzige Geschichte, die die Tory-Veranstaltung stört, die doch eigentlich zum Boris-Johnson-Jubel-Parteitag werden sollte. Bereits vergangene Woche hatte die „Sunday Times“ berichtet, Johnson habe in seiner Zeit als Bürgermeister Londons einer Freundin ungerechtfertigte Vorteile verschafft. Es geht um die US-amerikanische Geschäftsfrau Jennifer Arcuri, die Johnson mehrmals auf offizielle Reisen ins Ausland mitgenommen und der er mehr als 100.000 Pfund aus öffentlichen Fördergeldern beschafft haben soll – obwohl die Internet-Unternehmerin nicht die erforderlichen Bedingungen erfüllte. Die beiden sollen, natürlich, auch ein Verhältnis miteinander gehabt haben.
Tausende protestieren gegen die Politik des Premierministers
Jennifer Arcuri und der jetzige Premier wiesen die Anschuldigungen zurück. Johnson beteuert, es habe keine Unregelmäßigkeiten gegeben. Die Regionalregierung des Großraums London teilte dennoch mit, sie habe die zuständige Aufsichtsbehörde IOPC aufgefordert zu prüfen, ob es hinreichende Gründe für die Eröffnung eines Strafverfahrens gebe. Wie Johnsons Anhänger auf die Vorwürfe des Amtsmissbrauchs reagieren? Sie lachen die Geschichte einfach weg, als handle es sich um einen Lausbubenstreich. Ach, der Boris eben!
„Er ist ein Mann mit Charisma und bietet die Führung, die wir nun so dringend brauchen“, sagt etwa John, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Der europaskeptische Konservative ist für zwei Tage aus London ins herbstlich graue Manchester gereist. Er wünscht sich vor allem, dass das Königreich endlich aus der EU ausscheidet. Dass die Anschuldigungen gegen Johnson zum jetzigen Zeitpunkt aufkommen, schiebt er auf den Plan der Pro-Europäer, das Projekt Brexit zu sabotieren. „Die Remainer würden alles tun“, schimpft der 51-Jährige.
Sein Gesicht ist jetzt vor Wut verzerrt, er zeigt voller Verachtung auf den Abgeordneten Dominic Grieve, der hier, am Rande des Parteitags, nur wenige Meter entfernt steht. Grieve gehört zu den Geächteten, den Ausgestoßenen, den Rebellen in der konservativen Partei, die mit der Opposition paktierten, um einen No-Deal-Brexit, einen ungeregelten Brexit, auszuschließen. John nennt Leute wie Grieve „Verräter“. Deshalb findet er es auch völlig in Ordnung, dass Grieve von Johnson geschasst wurde. Denn es geht nach Ansicht des Parteimitglieds John um nichts weniger als um die Zukunft der Konservativen. „Wenn wir nicht am 31. Oktober die EU verlassen, ist es aus und vorbei mit der Tory-Partei“, sagt er. Die Menschen würden es der Regierung niemals verzeihen.
Umso schlimmer für den Briten, dass das Parlament das „Kapitulationsgesetz“ verabschiedet hat. So nennen die Hardliner beharrlich das Gesetz, das einen Brexit ohne Abkommen ausschließen soll. Demnach muss der Premier eine Fristverlängerung in Brüssel beantragen, wenn er bis zum 19. Oktober keinen Deal mit Brüssel erreicht hat. Der Kampfbegriff „Kapitulationsgesetz“ ist nur einer von vielen, derer sich Johnson und seine Leute in der aktuellen Wortschlacht noch mehr als üblich bedienen. Die scharfe Kritik an seinen Kriegsmetaphern und seiner, nun ja, fantasievollen Sprache, die er in der vergangenen Woche erntete, scheint aber an ihm abzuprallen. Vielmehr sei er „ein Vorbild an Zurückhaltung“ in Bezug auf seine Wortwahl, lobte sich Johnson am Wochenende selbst. Ein Hohn für seine Gegner, die darauf verweisen, dass insbesondere weibliche Abgeordnete Drohungen erhalten und das Klima auf der Insel gefährlich aufgeheizt sei – noch mehr, nachdem der Supreme Court die von Johnson erzwungene Suspendierung des Parlaments ebenfalls vergangene Woche in einer historischen Entscheidung für rechtswidrig erklärt hatte.
Johnson steht unter massivem Druck. Umso mehr inszeniert er sich als Premier, der gegen den Widerstand des vermeintlichen Establishments den Willen des Volks umzusetzen versucht. An der Basis kommt das an. Trotzdem ist die Nervosität spürbar im Konferenzzentrum in Manchester, die Euphorie der ersten Jahre nach dem Brexit-Votum ist verflogen, nun herrscht Angespanntheit.
Die Emotionen kochen immer wieder über. Während einer Debatte etwa, in der die Teilnehmer über den – was auch sonst – Brexit diskutieren, meldet sich plötzlich ein Mann aus dem Publikum zu Wort. Wütend schreit er den Abgeordneten Alistair Burt an, der früher einmal im Kabinett saß, mittlerweile aber wegen seines Widerstands gegen den No-Deal-Brexit aus der Fraktion ausgeschlossen wurde. „Es ist eine Schande, dass wir noch nicht ausgetreten sind“, schreit er. Er stimmte 2016 eigentlich für den Verbleib Großbritanniens in der EU, änderte seine Meinung jedoch. Nun ärgert er sich über die Unfähigkeit des britischen Parlaments, den Brexit umzusetzen. Aber vor allem ärgert er sich über die EU, die „uns mit so viel Verachtung behandelt hat“. Alistair Burt, ein Pro-Europäer, weiß um die Frustration der gespaltenen Partei wie auch jener in der Bevölkerung – will aber unbedingt mit Abkommen austreten und versucht zu beschwichtigen. „Ich verstehe, warum der Brexit nun umgesetzt werden muss“, sagt er. „Wir können den Geist nicht zurück in die Flasche stecken.“
Völlig unklar, wie Johnson den Brexit umsetzen will
Der Geist, er hat sich längst selbstständig gemacht. „Wir haben den Blick für unsere Geschichte und dafür, wer wir sind, verloren“, sagt der Parlamentarier Tobias Ellwood über den „Tiefpunkt der parlamentarischen Demokratie“, wie ein Beobachter den rhetorischen Kampf im Parlament nannte. Doch Ellwood hofft, dass das ein „Weckruf“ war, der nun vor allem die Tories wachrüttelt. „Wir brauchen Führung und Klarheit.“
In den nächsten Wochen kann alles passieren. Stellt die Opposition schon bald ein Misstrauensvotum? Die Chancen, dass sie es gewinnt, stehen gut. Neuwahlen würden folgen. Aber die kommen ohnehin früher oder später. Bis dahin soll der Brexit passiert sein, sonst haben die Konservativen ein Problem. Sie versprechen seit mehr als drei Jahren den EU-Austritt und liefern seit mehr als drei Jahren eben diesen nicht. Die große Sorge der Konservativen? Dass enttäuschte europaskeptische Wähler in Scharen zur Brexit-Partei von Nigel Farage überlaufen. Doch wie überhaupt will Johnson seine Zusicherung einhalten, am 31. Oktober – komme, was wolle – aus der EU zu scheiden, im Notfall auch ohne Deal? Er beharrt darauf, er werde um keinen weiteren Aufschub in Brüssel bitten. Würde er es tatsächlich wagen, das Gesetz zu brechen?
Fragen über Fragen, und eine Gewissheit: Am Ende dürften all seine märchenhaften Versprechen vor allem einer Sache dienen: dem nächsten Wahlkampf.
Geregelter oder ungeregelter Brexit, das ist hier die Frage
Auf dem Parteitag der regierenden konservativen Tory-Partei in Manchester dreht sich alles um den Brexit. Einen Monat vor dem geplanten EU-Austritt Großbritanniens ist die Lage unverändert verfahren – sowohl im Parlament als auch in den Verhandlungen mit der Europäischen Union.
Während der britische Premier Boris Johnson unablässig mit einem No-Deal-Brexit, also einem Austritt ohne Abkommen, am 31. Oktober droht, hofft Jean-Claude Juncker weiter auf eine Einigung. Der Ende Oktober aus dem Amt scheidende Präsident der Europäischen Kommission sagte: „Wir arbeiten intensiv an einem Deal. Denn ein Ausstieg der Briten aus der EU ohne Abkommen wäre eine Katastrophe für das Vereinigte Königreich und für den europäischen Kontinent.“ Befürchtet wird, dass ein ungeregelter Brexit massive Probleme unter anderem für die britische Wirtschaft zur Folge haben wird.
Einem BBC-Bericht zufolge will die britische Regierung nach dem Parteitag einen Plan für einen Deal vorlegen. Boris Johnson ist per Gesetz des Unterhauses dazu verpflichtet, sein Land nicht ohne Abkommen aus der EU zu führen. (az)