Am Blauen Nil baut Äthiopien einen Damm. Dafür wird der Strom umgeleitet. Ägypten fürchtet nun akuten Wassermangel und droht mit „allen Optionen“, wenn auch nur „ein Tropfen Wasser“ gestohlen werde. Doch Kairos Möglichkeiten sind beschränkt. Aus der Wasserkrise könnte eine neue Revolution werden.
Ägypten, so heißt es in einem arabischen Sprichwort, sei ein Geschenk des Nils. Schon unter den Pharaonen war das Leben im Land der Pyramiden vom Zustand des längsten Flusses der Welt abhängig. Er spendet dem Wüstenland am Mittelmeer Wasser und fruchtbare Erde. Bis heute ist Ägypten ohne das Wasser des Nils nicht denkbar.
Doch nun wollen andere die Lebensader des bevölkerungsreichsten Staats Afrikas anzapfen. Äthiopien hat mit Hilfe der italienischen Firma Salini Construttori damit begonnen, den Renaissance-Damm, den größten Staudamm des Kontinents, zu bauen. Etwa 60 Kilometer von der Grenze zum Sudan soll das gewaltige Bauwerk in zwei Jahren 6000 Megawatt Strom produzieren und Äthiopien zum wichtigsten Stromexporteur Afrikas machen.
Doch zuvor muss ein gewaltiger Stausee mit 74 Millionen Kubikmeter Wasser gefüllt werden. Das, so fürchtet Kairo, könnte für Ägypten eine Katastrophe bedeuten. Dort wächst der Druck auf Präsident Muhammad Mursi, Addis Abeba entschlossen entgegenzutreten – notfalls mit Gewalt.
Denn schon heute steht den Ägyptern zu wenig Wasser zur Verfügung – mit 640 Kubikmetern im Jahr pro Kopf rund 30 Prozent weniger als im Weltdurchschnitt. Und da seit der Machtübernahme der Muslimbrüder viele staatliche Programme zur Geburtenkontrolle eingestellt wurden, nehmen Bevölkerung und Wasserbedarf rapide zu. Das staatliche Planungsinstitut schätzt, dass Ägyptens Einwohnerzahl bis 2050 auf 150 Millionen Bürger anwachsen wird. Um sie mit Wasser zu versorgen, benötigt das Land jährlich 21 Milliarden Kubikmeter mehr. Fast der gesamte Bedarf wird aus dem Nil gedeckt – für gewaltige Entsalzungsanlagen am Meer fehlt dem hoch verschuldeten Staat das Geld.
Bisher standen Kairo etwa 85 Prozent des Nilwassers zu, rund 55 Milliarden Kubikmeter im Jahr. Dieses Anrecht basiert auf Verträgen, die die britischen Kolonialherren 1929 und 1959 festlegten. Die nahmen dabei jedoch auf die acht Staaten rund um die Quellen des Nils keine Rücksicht. Das wollten die Anrainer stromaufwärts nicht mehr hinnehmen. Mitte 2010 verfassten sechs Staaten – Äthiopien, Uganda, Kenia, Tansania, Ruanda und Burundi – einen neuen Vertrag, um das Wasser des Nils „gerechter“ aufzuteilen – ohne die Zustimmung Ägyptens und des Sudans, der ebenfalls vom Fluss abhängig ist. Nun setzt Addis Abeba den Vertrag um.
Die Ägypter fürchten die Konsequenzen. Mehr als drei Milliarden Kubikmeter könnten jährlich vom Stausee durch Verdampfung verloren gehen, schätzten ägyptische Experten. Der Ingenieur Alaa al-Sawahri glaubt, dass Ägypten jährlich 15 Milliarden Kubikmeter weniger Wasser erhalten wird – mehr als ein Viertel der Jahresmenge – solange Äthiopien den Renaissance-See auffüllt: „Ein Optimist würde sagen, er wird verheerenden Schaden verursachen. Ein Pessimist, er wird zu einer Katastrophe führen“, sagte al-Sawahri der Nachrichtenagentur AP.
Ägyptens Präsident Muhammad Mursi steht nun unter gewaltigen innenpolitischen Druck, den Bau des Damms zu verhindern. Er nahm bereits großen politischen Schaden, als Äthiopien die Umleitung des Nils nur wenige Stunden nach der Rückkehr Mursis von einem Besuch in Addis Abeba verkündete.
Im Gegensatz dazu, so erinnern Mursis Widersacher nun, habe Vorgänger Hosni Mubarak mit Krieg gedroht, falls dem Land Nilwasser „gestohlen“ werde. Sie fordern ein unbeugsames Auftreten Mursis: „Wir stehen vor einer Katastrophe, wenn wir nicht sofort und entschlossen handeln“, schrieb die Reform- und Entwicklungspartei in einem Kommuniqué, in dem sie den Präsidenten für „den bevorstehenden Wassermangel“ verantwortlich machte.
Mursi reagiert einerseits mit harter Rhetorik. Wenn auch „nur ein Tropfen vom Wasser des Nils gestohlen wird, dann ist die einzige Alternative, dass wir unser Blut geben“, sagte er unter dem Jubel seiner Anhänger. Alle Optionen kämen infrage, so der Präsident. Der Fluss sei Gottes Geschenk an Ägypten, so der Präsident, und fügte hinzu, man werde „keine Bedrohung unserer Wasserversorgung hinnehmen“.
Das dürfte die Beziehungen mit Äthiopien weiter belasten, nachdem eine Krisensitzung mit der Opposition zum Eklat geführt hatte. In der live im Fernsehen übertragenen Besprechung hatte der Führer der salafistischen Nur-Partei der Salafisten Junis Machiun vorgeschlagen, Äthiopien mit Hilfelieferungen an Rebellen zu destabilisieren: „Wenn dieser Ansatz scheitert, bleibt keine andere Wahl, als den Damm mit Hilfe unseres Sicherheitsdienstes zu zerstören“, meinte Machiun, dessen Partei über ein Viertel der Parlamentssitze verfügt.
Doch vorerst schließt Wasserminister Muhammad Baheddin eine militärische Lösung aus. Mursi will keinen Krieg mit einem weit entfernten Land, dessen Ausgang fraglich ist, und dessen Folgen Ägypten in noch tieferes Chaos stürzen könnten. „Wir rufen nicht zum Krieg auf“, sagte Mursi in seiner Ansprache und betonte, der Dialog mit den Anrainern sei der beste Weg, um die Krise beizulegen. Äthiopien sei immer noch ein Freund. Mursi soll Vertreter der koptischen Kirche entsandt haben, um mit der christlichen Regierung Äthiopiens zu verhandeln. Addis Abeba schloss einen Baustopp am zwölf Milliarden Dollar teuren Projekt jedoch kategorisch aus. Der Druck von Seiten der ägyptischen Opposition dürfte demnach noch weiter zunehmen.