In Tunesien kommt es zu einer Stichwahl um das Präsidentenamt. Das berichteten gestern übereinstimmend die Kampagnen der führenden Bewerber sowie ein unabhängiges Institut zur Wahlbeobachtung. Der als Favorit in die Abstimmung am Sonntag gegangene Béji Caid Essebsi schrammte demnach knapp an einer absoluten Mehrheit vorbei. Den Hochrechnungen zufolge erzielte er zwischen 42,7 und 47,8 Prozent der Stimmen. Das Präsidentenamt kann dem 87-jährigen Politikveteran nun nur noch der bisherige Übergangspräsident Moncef Marzouki streitig machen. Dieser erzielte zwischen 26,9 und 32,6 Prozent der Stimmen. Abgeschlagen auf Rang drei reihte sich der Linkspolitiker Hamma Hammami ein.
Die Wahlbeteiligung bei der ersten freien Präsidentschaftswahl in Tunesiens moderner Geschichte fiel mit rund 65 Prozent etwas geringer aus als noch bei der Parlamentswahl im vergangenen Monat, an der sich 69 Prozent der registrierten Wähler beteiligt hatten. Die offiziellen Ergebnisse sollen bis Mittwoch vorliegen.
Rund 22 000 Wahlbeobachter, darunter 600 Ausländer, stellten sicher, dass die Abstimmung transparent verlief. Dem Vorsitzenden der Wahlkommission zufolge kam es nur vereinzelt zu kleineren Verstößen gegen das Wahlgesetz. Tunesische Medien feierten die Wahl als „historischen Moment“ und „Lehrstunde für die Region“. Anfang des Jahres Jahr hatte sich das nordafrikanische Land bereits eine neue Verfassung gegeben, die zu den fortschrittlichsten in der arabischen Welt zählt. Die Parlamentswahl im vergangenen Monat sowie nun die Präsidentschaftswahl schließen den Übergang Tunesiens zur Demokratie formal ab. Fast vier Jahre nach der Jasminrevolution, die politische Umstürze in der gesamten Region in Gang setzte, kann das Land somit wieder auf eine stabile Regierung hoffen.
Die dominante Rolle in der künftigen Regierung wird – unabhängig vom Ergebnis der Stichwahl – die von Essebsi gegründete säkulare Partei Nidaa Tounes spielen. Diese sicherte sich im Oktober fast 40 Prozent der Parlamentssitze. Damit wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach den künftigen Ministerpräsidenten stellen, dem gemäß der neuen Verfassung deutlich mehr politische Macht zufällt als in der Vergangenheit.
Die Dominanz von Nidaa Tounes, die erst vor zwei Jahren als Reaktion auf den kometenhaften Aufstieg des politischen Islams in Tunesien gegründet worden war, ruft allerdings auch Ängste hervor. Der Partei wird von Kritikern vorgeworfen, autokratisch zu agieren und ehemaligen Mitgliedern der gestürzten Diktatur Unterschlupf zu bieten. Auch hat Nidaa Tounes maßgeblich zur Polarisierung des Landes beigetragen.