So regelmäßig wie die Maiglöckchen erscheinen in jedem Frühjahr die Innenminister von Bund und Ländern: Dann erklären sie moderat sorgenvoll, zwar steige hier oder da die Zahl der Delikte (wie jetzt beim Einbruch), aber in den meisten Bereichen sei die Lage stabil und die Aufklärungsquote hoch. Die Kernbotschaft: Wir leben in einem sicheren Land. Da kann man sich wohlig zurücklehnen und den geplagten Ermittlern ruhig mal lobend auf die Schultern klopfen.
Das muss nicht falsch sein. Aber als Beleg wird stets die polizeiliche Kriminalitätsstatistik (PKS) hochgehalten wie das allein gültige Mantra der Sicherheit – als könne es an der absoluten Aussagekraft dieser Zahlen keinerlei Zweifel geben. Und als habe es nie Winston Churchill gegeben, der den zynischen Satz prägte: Traue nie einer Statistik außer der, die du selbst gefälscht hast.
Natürlich würde niemand ernsthaft behaupten, es würde in der PKS bewusst mit falschen Zahlen gespielt. Aber ein wenig Hütchenspielerei ist schon dabei – je nachdem, welche Akzente Politiker bei der Sicherheitspolitik gerade spielen wollen (und angesichts der Personalsituation können).
Ein Kriminalbeamter mit langjähriger Berufserfahrung nennt ein augenfälliges Beispiel: Hat die Polizei gerade wenig Rauschgiftfahnder zur Verfügung, kann sie nicht häufig kontrollieren. Das heißt: wenig beschlagnahmte Mengen, wenige festgenommene Täter. In der Statistik könnte das zu dem Trugschluss führen, die Drogenkriminalität ginge zurück – obwohl es vielleicht genau umgekehrt ist.
Beim heiklen Thema Vergewaltigung wird das Problem noch deutlicher: Steigt die Zahl der Anzeigen bei der Polizei (und damit der Wert in der PKS), könnte man daraus auf mehr Brutalität gegenüber Frauen schließen – oder aber auf das völlige Gegenteil, nämlich: mehr Mut von Opfern zur Anzeige, weil sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen geändert haben.
Bei der Kriminalstatistik darf man – wie bei Kriminalfällen selbst – getrost nach dem Motiv fragen: Wem nutzen die Zahlen, die einem da präsentiert werden? Am aktuellen Beispiel kann man das verfolgen: Bundesinnenminister Thomas de Maiziere nennt den Anstieg der Zahl der Einbrüche 2013 um 3,7 Prozent „besorgniserregend“, die Aufklärungsquote mit 15,5 Prozent gering. Prompt fordert (mögliches Motiv eins) die Gewerkschaft der Polizei (GdP) einen Stopp des Personalabbaus bei Ermittlungsbehörden: „Wir haben zu wenige Leute, denen man zu wenig Zeit gibt, nach Einbrüchen eine intensive Tatortarbeit zu machen.“ Dann fordert (mögliches Motiv zwei) Ralf Jäger, der Innenminister von Nordrhein-Westfalen, die engere Zusammenarbeit von Bund und Ländern. „Wir Innenminister arbeiten daher an der Entwicklung eines bundesweit abgestimmten Konzeptes zur Bekämpfung mobiler Einbrecherbanden.“
Pressevertreter werden mit Zahlen nicht nur manipuliert. Sie fragen bei der Präsentation der PKS auch nicht genau genug nach – oder sind eher an spektakulären Schlagzeilen interessiert: „Alle vier Minuten schlagen Einbrecher zu.“
Natürlich lässt sich so eine Aussage statistisch belegen – mit der Realität hat sie aber nur bedingt zu tun: 2011 wurden in der Millionenstadt Köln im Schnitt täglich 16 bis 17 Einbrüche registriert, in München weniger als drei – schlimm genug, aber das klingt gleich weit weniger dramatisch. Die „alle vier Minuten“ sind eine künstliche Zahl, die eine völlig verzerrte Realität zeigen. Natürlich wollen sich Bundes- und Landesregierungen in gutem Licht zeigen. „Deshalb gieren sie nach hohen Aufklärungsquoten“, wissen erfahrene Ermittler mit leidvollen Erfahrungen. Ein Beispiel: Ein Serieneinbrecher ist geschnappt, wie präsentiert man das Ergebnis? Mithilfe eines findigen Statistikers werden aus einem geklärten Serienfall zehn aufgeklärte Einzeltaten, das macht sich besser in der Statistik.
„Aber dient das der Sicherheit? Wird der Bevölkerung etwas vorgespielt?“, fragten sich 2012 Innenpolitiker des Bundestages wie der inzwischen pensionierte Volkacher Frank Hofmann (SPD) nach einer ernüchternden Fachtagung der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem süffigen Titel „Kriminalpolitik im Blindflug?“. Sie stellt die Kernfrage: „Welche Kriminalstatistiken braucht die Politik?“ Selbst das Bundesinnenministerium weist darauf hin: „Die PKS bietet kein getreues Spiegelbild der Kriminalitätswirklichkeit, sondern eine je nach Deliktsart mehr oder weniger starke Annäherung an die Realität.“ In Berlin räumt man ein: „Änderungen im Anzeigeverhalten der Bevölkerung oder in der Verfolgungsintensität der Polizei können die Grenze zwischen dem Hell- und Dunkelfeld verschieben, ohne dass sich der Umfang der tatsächlichen Kriminalität verändert hat.“
Fachleute wie Hofmann – einst beim Bundeskriminalamt beschäftigt, dann lange Jahre Innenexperte im Bundestag – halten die PKS nicht für ausreichend. Zwar fehlt es in Deutschland nicht an Statistiken, die man ergänzend bemühen könnte. Aber „sie sind nicht miteinander kompatibel“, sagt Hofmann.
Dabei wäre es für eine realistische Beurteilung der Sicherheitslage schon wünschenswert, wenn der Bürger beispielsweise wüsste, wie effektiv die Ermittlungen waren: Also, wie viele von der Polizei ermittelte Verdächtige für das angeklagte Delikt dann auch angeklagt und vom Gericht verurteilt wurden – und wenn nicht, warum?
Die Fachtagung von 2012 nannte Zahlen: Auf 100 wegen Mordes oder Totschlages ermittelte erwachsene Tatverdächtige kamen 2010 nur 24 wegen dieser Delikte verurteilte. Bei einfacher vorsätzlicher Körperverletzung waren es 15 Prozent, bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung 17 Prozent und bei Raub, räuberischer Erpressung und räuberischem Angriff auf Kraftfahrer 28 Prozent.
Was ist mit den erwachsenen Tatverdächtigen geschehen, die nicht verurteilt wurden, möchte man gerne wissen. „Hat die Polizei den Tatverdacht dramatisiert oder ist die Justiz zu lasch?“, so Hofmann. Er schließt aus jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema, „dass zahlreiche kriminalpolitisch höchst relevante Fragen auf der Grundlage der jetzigen Kriminalstatistik nicht zu beantworten sind“.
Als Konsequenz solcher Überlegungen wurde 2001 erstmals ein weit darüber hinausgehender Periodischer Sicherheitsbericht für die Bundesregierung (PSB) erstellt: Ohne Erfolgskontrolle sei das kriminalrechtliche System wie „eine Firma ohne Buchhaltung, die in seliger Unkenntnis vom Ausmaß ihres Gewinns oder ihres Verlustes arbeitet“, hieß es im Vorwort. Umfangreiche Forschungen zum Dunkelfeld – der Kriminalität, die der Polizei nicht bekannt wird – standen im Zentrum. 2006 bekannten sich in der Großen Koalition auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) zu der Idee. Doch seit 2009 die CDU/CSU in der Innenpolitik das Sagen hat, starb die SPD-Idee einen stillen Tod. „Wir müssen das wiederbeleben“, ist Hofmann überzeugt.