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Stasi-Verbrechen: War da was?
Geschichte: Die Überwachung in der DDR war allgegenwärtig. Dokumentiert ist dies in der Stasi-Unterlagenbehörde. Die steht nun vor dem Aus. Verklärt sich bald der Blick auf die Schrecken der Vergangenheit? Schon heute sagen Opfer des Regimes: Das Unrecht wird totgeschwiegen.
Stasi       -  Die Staatssicherheit und ihre schwarzen Taschen: In der heutigen Unterlagenbehörde werden auch die Mappen aufbewahrt, mit denen die hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter die Akten in der Zentrale von A nach B transportierten.
Foto: Richard Mayr | Die Staatssicherheit und ihre schwarzen Taschen: In der heutigen Unterlagenbehörde werden auch die Mappen aufbewahrt, mit denen die hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter die Akten in der Zentrale von A nach B transportierten.
Von unserem Mitarbeiter Richard Mayr
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:54 Uhr

Nur vier Flugblätter hat er geschafft. Damals, 1976, als Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert worden ist. Hans-Jürgen Breitbarth hat sie an Schaufensterscheiben geklebt. Aufrütteln wollte er, der 23-jährige Hippie mit den langen Haaren. Eine gesellschaftliche Diskussion auslösen. Vor dem fünften Flugblatt hat ihn der Staatssicherheitsdienst der DDR gefangen genommen. Die Stasi war über einen inoffiziellen Mitarbeiter – ein Freund Breitbarths – bis in die Details informiert.

Breitbarth kam ins Gefängnis, für 18 Monate. Es begann mit einem halben Jahr Einzelhaft im Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen. Ein halbes Jahr lang kein Kontakt zur Außenwelt, zu einem Anwalt, zu seiner hochschwangeren Frau, auch kein Kontakt zu anderen Gefangenen. Nicht einen von ihnen hat er im Gefängnis gesehen. Dafür hatte die Stasi extra eine Ampelanlage in ihrem Geheimgefängnis eingebaut, um sicher zu sein, dass es keine zufälligen Begegnungen auf dem Gang gibt. Heute, wo Breitbarth Gruppen durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen führt, sagt er, es sei ein Wunder, dass er das alles überstanden hat, ohne verrückt zu werden. „Meine Schutzengel haben Überstunden gemacht.“

Detailliert festgehalten hat diesen Fall auch die Staatssicherheit selbst. Breitbarths Akte ist umfangreich. Sie liegt in der Stasi-Unterlagenbehörde. Jene Institution, die wie keine andere für die Aufarbeitung des Unrechts der SED-Diktatur steht. Und nun vor dem Aus in ihrer bisherigen Form steht. Der Bundestag diskutiert darüber, ob sie 2021 ins Bundesarchiv integriert wird. Verklärt sich der Blick auf die DDR-Vergangenheit in der Breite der Gesellschaft noch mehr? Und: Kann sich Deutschland das erlauben?

In der Gedenkstätte Hohenschönhausen wird nichts beschönigt, werden die SED-Diktatur und ihr Unterdrückungsapparat beim Namen genannt – auch 27 Jahre nach der friedlichen Revolution. Dort ist zu spüren, von welch einem neurotisch-totalitären Staat sich die Menschen 1989 befreit haben. Am Ende war dessen Geheimdienst auf 91 000 hauptamtliche Mitarbeiter angewachsen, für den 180 000 inoffizielle Mitarbeiter spitzelten.

Mit deutscher Gründlichkeit haben sie alles dokumentiert – in Millionen Aktenvermerken, Überwachungs- und Abhörprotokollen, in Tonbandaufzeichnungen und Filmen. Nur eines ist dem hocheffizienten Teil der ansonsten eher wenig effizienten DDR nicht gelungen: Das Archiv des totalitären Staats zu vernichten, als die friedliche Revolution die alten Machthaber stürzte.

Den Verantwortlichen für das Unrecht war bewusst, dass die Zeit kommen könnte, in der sie für ihre Repressalien, Untaten und Verbrechen im Namen des Sozialismus zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Also gaben die Stasi-Chefs schon im Oktober 1989 die Parole aus, kompromittierende Akten zu schreddern. Die Bürger allerdings verhinderten das Vorhaben: Sie besetzten im Januar 1990 die Stasi-Zentrale und verhinderten, dass die Dokumente von 40 Jahren totaler Überwachung und Infiltration komplett vernichtet wurden. Die Revolution war an ihr Ziel gelangt.

Als ein Symbol für jene Tage steht bis heute die Stasi-Unterlagenbehörde. „Die Stasi-Akten sind die wichtigste Überlieferung über die SED-Diktatur“, sagt der Historiker Hubertus Knabe, der die Stasi-Opfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen leitet und früher selbst einmal in der Behörde gearbeitet hat. Und er stellt trocken fest, dass die Erinnerung an die kommunistische Diktatur nur noch schwach ausgeprägt ist: „Ich fürchte, dass sich das auch nicht mehr ändern wird.“ Knabe bemerkt immer wieder, dass die SED-Herrschaft im Schulunterricht oft gar kein Thema mehr ist, dass selbst eine Institution wie die Bundeszentrale für politische Bildung kaum etwas für mehr Aufklärung tue. Die Erinnerung an die Unterdrückung verblasst. Verschärft würden die Versäumnisse dadurch, dass die Ideologie des Kommunismus auch im 21. Jahrhundert noch eine gewisse Anziehungskraft habe, vor allem auf Jüngere. „Doch überall, wo der Kommunismus zur Macht kam, schlug er um in Terror und Unterdrückung“, sagt Knabe.

Mit den Menschen, die vom Kommunismus nichts wissen wollten, wurde rücksichtslos und grausam umgegangen. Etwa mit Joachim Klemmer, 69, der seit 1972 in Neuburg an der Donau lebt. Schon als Kind spürte Klemmer ein tiefes Unbehagen gegenüber der DDR. Mit 19 Jahren wollte er ausbrechen. Sein Fluchtplan: Mit einem kleinen Laster einfach am Checkpoint Charlie durch alle Absperrungen brechen. Den ersten Schlagbaum schaffte er noch. Dann schlugen zwei Schüsse im Fahrzeug ein. Klemmer duckte sich, verlor erst die Kontrolle über das Auto – und dann sechs Jahre lang über sein Leben. Die Stasi nahm ihn fest und sperrte ihn ein. In der Haftzeit schlug ihm ein Gefängnis-Wärter einmal dermaßen brutal auf die Wirbelsäule, dass Klemmer sich bis heute nicht richtig bewegen kann und deshalb in ärztlicher Behandlung ist. Nach der Haft durfte er in den Westen.

„Das Unrecht wird totgeschwiegen“, sagt Klemmer heute. Die alten Kader haben die SED erst in PDS und später in „Die Linke“ umbenannt. Und die Strafe, die der Schließer wegen dieses und 24 ähnlicher Fälle bekommen hat, zwei Jahre Gefängnis auf Bewährung, findet Klemmer lächerlich gering.

Das Trauma aus jenen Jahren verfolgt Klemmer bis heute. Wenn er seine Rente mit der führender SED-Kader vergleicht, bleibt nur noch der Frust übrig. Für den überwiegenden Teil des Regimes haben sich das Unterdrücken und die Repression gelohnt. Sie beziehen im Vergleich zu den Normalverdienern der DDR heute Top-Renten. Nun also berät der Bundestag darüber, ob es nicht an der Zeit ist, die Stasi-Unterlagenbehörde 2021 im Bundesarchiv aufgehen zu lassen, also 27 Jahre nach der friedlichen Revolution noch mehr Normalität einkehren zu lassen.

Eine Kommission hat vorgeschlagen, die Behörde mit derzeit 1600 Mitarbeitern aufzulösen. Übrig bleiben soll nur ein Rest-Bundesbeauftragter mit einer Handvoll Mitarbeiter. Und eine kleine Stiftung auf dem Gelände der früheren Stasi-Zentrale in Berlin. Der Historiker Hubertus Knabe fürchtet, dass sich dadurch die Bedingungen für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit weiter verschlechtern werden. „Die Stasi-Unterlagenbehörde hat einen hohen Symbolwert – nicht nur für die Opfer, sondern auch international“, sagt Knabe. „So etwas wirft man nicht einfach in den Müll.“ Die stärkste Aufarbeitungsinstitution in Deutschland ginge verloren.

Rund 110 Regalkilometer Akten bewahrt die Stasi-Unterlagenbehörde auf, ein Großteil davon am ehemaligen Stasi-Hauptquartier an der Frankfurter Allee in Berlin. Seit 1992 sind dort drei Millionen Anträge von Bürgern auf Akteneinsicht bearbeitet worden. Noch immer werden rund 5000 Anfragen pro Monat gestellt. Die Recherchen sind aufwendig, weil die Stasi ihre Akten nicht zentral ablegte, sondern verschlüsselt in mehreren Systemen. Nur ausgewählte Mitarbeiter hatten Zugriff auf alle Akten.

Der heutige Bundespräsident Joachim Gauck war der erste Sonderbeauftragte der Bundesregierung für die Stasi-Unterlagen. In seine Amtszeit fiel die Entscheidung, beim Personal der Behörde zu einem Großteil auf Verwaltungsfachleute der SED zurückzugreifen. Allerdings befanden sich dadurch von Anfang an ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter in der Behörde. Selbst heute arbeiten noch rund 20 von ihnen dort. Für Opfer des Regimes ist die Vorstellung, dass Ex-Stasi-Mitarbeiter in ihre Akten sehen können, ein Graus.

Auf Gauck folgte Marianne Birthler. Seit 2011 heißt der Bundesbeauftragte Roland Jahn, der 1983 aus der DDR ausgebürgert wurde, weil er zur Friedensgemeinschaft Jena gehört hatte, einer Opposition, die die Stasi als feindlich-negativ einstufte und bekämpfte. Dem Übergang seiner Behörde in das Bundesarchiv gewinnt Jahn etwas Positives ab. „Veränderungen zur Verbesserung sind immer gut“, sagt er. Auch wenn die Akten im Bundesarchiv lagern, solle die Möglichkeit der Akteneinsicht weiterhin gegeben sein. Über die Stiftung könne der Fokus der Erinnerungsarbeit von der Stasi auf die ganze SED-Diktatur gelegt werden. Als „Schwert und Schild der Partei“ habe die Stasi lediglich die Direktiven der SED ausgeführt.

Die Expertenkommission geht mit ihren Vorschlägen noch weiter. Auch die Gedenkstätte Hohenschönhausen soll in einer neuen Stiftung aufgehen. Knabe kritisiert diesen Vorschlag scharf: „Ich finde es schon sehr befremdlich, wenn eine Kommission des Bundestages etwas verteilen will, was ihr gar nicht gehört. Die Gedenkstätte Hohenschönhausen ist eine Einrichtung des Landes Berlin. Sie der einstigen Stasi-Zentrale anschließen zu wollen, empfinden viele Opfer als nachgerade zynisch. Offenbar soll hier ein Problem des Bundes auf Kosten der wichtigsten Erinnerungsstätte für Stasi-Opfer gelöst werden.“

Immer wieder kommt es in der Gedenkstätte Hohenschönhausen zu Zwischenfällen, wenn alte Stasi-Kader Führungen stören, die Zeitzeugen verhöhnen und beleidigen und dabei die untergegangene Diktatur verklären. Als „Reaktionäre“ und „Faschisten“ – also ganz in der alten Stasi-Begrifflichkeit – sind die Zeitzeugen schon beschimpft worden. Hans-Jürgen Breitbarth hat das selbst erlebt. „Sie wollen uns provozieren“, sagt er. „Und wir dürfen uns nicht provozieren lassen“ – auch wenn das schwerfällt.

Als er in Haft war, musste Breitbarth zwangsweise mit dem Rauchen aufhören. Jahrzehnte rührte er keine Zigarette mehr an – nicht in Dortmund, in Hamburg und auf La Palma, wo er nach seiner Ausbürgerung 1984 lebte. Erst als er wieder nach Berlin zurückzog und als Zeitzeuge in Hohenschönhausen Besuchergruppen den Stasi-Terror näher brachte, griff er wieder zu Zigaretten. „Am Ort der eigenen Qual zu arbeiten, das wühlt mich einfach auf“, sagt er. Aber Breitbarth will seinen Beitrag dazu leisten, dass die Erinnerung an die kommunistische Diktatur lebendig bleibt. Nur so bleibt gewährleistet, dass es nicht wieder zu so etwas kommt.

So wird über die künftige Aufarbeitung der SED-Diktatur entschieden

Aktueller Stand: In der Stasi-Unterlagenbehörde, an deren Spitze der Bundesbeauftragte Roland Jahn steht, lagern die meisten Dokumente, die vom Unrecht der SED-Diktatur zeugen. Sie hat aktuell 1600 Mitarbeiter und bearbeitet pro Monat rund 5000 Anträge auf Akteneinsicht. Der Hauptsitz der Behörde ist am ehemaligen Stasi-Hauptsitz in Berlin-Lichtenberg. Dort betreibt der Verein Antistalinistische Aktion Berlin-Normannenstraße, der von DDR-Bürgerrechtlern gegründet wurde, seit 1990 auch das Stasi-Museum. Zu sehen sind dort unter anderem die Amtsräume des ehemaligen Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke. Außerdem gibt es in Berlin die Gedenkstätte Hohenschönhausen. Im ehemaligen zentralen Stasi-Untersuchungsgefängnis schildern Zeitzeugen, wie sich die DDR-Diktatur auf die Opfer ausgewirkt hat. Expertenkommission: Der Bundestag berief 2014 eine Expertenkommission ein, um über die Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde zu beraten. Ihr gehörten keine Bundestagsmitglieder an. Unter dem Vorsitzenden Wolfgang Böhmer, ehemaliger Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, schlug sie dem Bundestag nun vor, die Behörde 2021 im Bundesarchiv aufgehen zu lassen.

Die Möglichkeit zur Akteneinsicht soll weiterhin gegeben sein. Diskussion: Der Abschlussbericht der Kommission liegt noch nicht öffentlich vor. Am 27. April soll darüber im Bundestag gesprochen werden. Einzelne Details sickern aber schon durch. So schlägt die Kommission vor, die Struktur an das Gedenken der SED-Diktatur zu zentralisieren und in einer Stiftung zu bündeln – dazu gehören das Stasi-Museum und die Gedenkstätte Hohenschönhausen. Von beiden Institutionen erntet der Kommissionsvorschlag schon jetzt scharfe Kritik. John Steer, Sprecher des Stasi-Museums Berlin, sagte der „Berliner Morgenpost“, die Kommission habe ihren Auftrag verfehlt, die Ausführungen seien geradezu abenteuerlich: „Dieser Vorschlag ist eine Mogelpackung, denn das Stasi-Museum Berlin ist die Institution unseres Trägervereins und steht dafür nicht zur Verfügung ... Das ist Geschichtspolitik nach Gutsherrenart und alles andere als guter Stil.“ Parlamentsdebatte: Der Bundestag will am 4. Juli geplante 45 Minuten lang über die Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde und den Vorschlag der Expertenkommission debattieren. rim/AZ

Stasi       -  Hans-Jürgen Breitbarth arbeitet als Zeitzeuge in Hohenschönhausen.
Foto: Richard Mayr | Hans-Jürgen Breitbarth arbeitet als Zeitzeuge in Hohenschönhausen.
Bundesbeauftragter Roland Jahn       -  Roland Jahn ist Chef der Stasi-Unterlagenbehörde.
Foto: Jens Büttner, dpa | Roland Jahn ist Chef der Stasi-Unterlagenbehörde.
 
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