Ein Selbstmordanschlag mitten in der Hauptstadt tötet vermutlich über 100 Menschen, doch innerhalb kürzester Zeit entwickelt sich erbitterter Streit: Zu dem schlimmsten Anschlag der türkischen Geschichte tritt die politische Tragödie der unüberbrückbaren Gegensätze in der Türkei. Selbst ein solches Blutbad vermag es nicht, eine Gemeinsamkeit der Demokraten entstehen zu lassen, in der alle Parteien des Parlaments zusammen gegen den Terror Stellung beziehen.
Vielmehr beschuldigt die Kurdenpartei HDP die Regierung, an einer brutalen Gewalttat gegen das eigene Volk beteiligt gewesen zu sein. Beweise dafür legt die HDP nicht vor – ihre Anhänger glauben ihr auch so. Auf der anderen Seite fertigt die Regierung in kalter Arroganz ihre Kritiker mit dem Hinweis ab, sie könne – selbst nach dem Tod so vieler Menschen – keinerlei Mängel im Sicherheitsapparat erkennen. Wer kann da noch eine lückenlose Aufklärung des Anschlags erwarten?
Die Polarisierung der türkischen Gesellschaft, die von der Regierung jahrelang aus wahltaktischen Gründen vorangetrieben wurde, ist inzwischen so beherrschend geworden, dass es kaum noch Brücken zwischen den verschiedenen Lagern gibt. In einer nationalen Notsituation wie nach dem Anschlag von Ankara müssten die Demokraten jetzt zusammenstehen und über die Parteigrenzen hinweg eine einheitliche Front gegen die Gewalttäter bilden. Doch davon ist in der Türkei nichts zu sehen.
Präsident Erdogan selbst hat durch seine sehr parteiliche Amtsführung zugunsten der Regierungspartei AKP zudem die von der Verfassung vorgesehene politische Schiedsrichterrolle des Staatschefs ausgehebelt. Es gibt in der politischen Arena niemanden, der parteiübergreifend als Versöhner wirken und die diversen Akteure an einen Tisch bringen könnte. Als Folge dieses alles durchdringenden Lagerdenkens ist eine kritische Beleuchtung der Leistungen oder Mängel der Sicherheitsbehörden unmöglich. Jedes Eingeständnis eines Fehlers würde als Niederlage gewertet und wird deshalb vermieden. So kommt es, dass in der Türkei weder nach dem Grubenunglück von Soma mit mehr als 300 Toten noch nach dem Anschlag von Ankara auch nur ein verantwortlicher Politiker den Hut genommen hat. Denn ein Rücktritt wäre ein Schuldeingeständnis.
Nicht nur die Regierung ist verantwortlich für diese Entwicklung. Kurdenpolitiker müssen sich vorwerfen lassen, mit der kompromisslosen Verteufelung von Erdogan und anderen Spitzenpolitikern das gegenseitige Misstrauen weiter verstärkt zu haben. Insgesamt bietet das politische Ankara ein Bild, in dem jeder den eigenen Vorteil sucht und auf den jeweiligen Gegner eindrischt, ohne dass es einen Sinn für das Gemeinsame, das große Ganze, das Wohl des Landes insgesamt gibt – und das ist Gift für eine Demokratie.