An Selbstbewusstsein mangelt es ihr nicht. Und an Durchsetzungsfähigkeit erst recht nicht. Andrea Nahles war bereits Juso-Chefin, SPD-Generalsekretärin und Arbeits- und Sozialministerin. Sie ist seit 30 Jahren in der SPD und hat mit den ebenso starken wie eigenwilligen und von sich überzeugten Parteichefs, von Oskar Lafontaine über Gerhard Schröder und Franz Müntefering bis zu Sigmar Gabriel, ihre sehr speziellen Erfahrungen gemacht.
Nun steht die 47-jährige Fraktionschefin davor, ein Stück Parteigeschichte zu schreiben. Am Sonntag könnte sie auf dem Sonderparteitag in Wiesbaden als erste Frau in der mittlerweile 155-jährigen Geschichte der Sozialdemokratie an die Spitze der Partei gewählt werden und somit den Partei- und den Fraktionsvorsitz in ihrer Hand vereinen.
„Das ist für mich eine ehrlich empfundene Ehre“, sagt sie vor dem Parteitag mit einer gewissen Ehrfurcht, aber ohne Angst vor der Herausforderung. „Ich glaube, ich kann das, und ich kann das auch im Team mit anderen zu was Gutem machen.“ Im Grunde gilt die Wahl von Nahles als sicher. Dennoch muss sie kämpfen, denn mit der 41-jährigen Simone Lange gibt es eine Gegenkandidatin, die in den letzten Wochen an Statur wie an Zuspruch gewonnen hat. Die Oberbürgermeisterin von Flensburg, eine gebürtige Thüringerin, die 2003 nicht wegen, sondern trotz Gerhard Schröder in die SPD eintrat, präsentiert sich als Gegenentwurf zu der langjährigen Parteisoldatin und Funktionärin Nahles, als eine Vertreterin der Basis.
Personelle Erneuerung verkörpern
Als sie ihre Kandidatur um den Parteivorsitz anmeldete, begründete sie dies gegenüber dem Parteivorstand mit den Worten: „Ich kann das Gefühl der Ohnmacht vieler Mitglieder gegenüber denen, die in Berlin Entscheidungen treffen, ohne die Basis einzubeziehen, sehr gut nachvollziehen.“ Nahles sei „kein neuer Kopf“, sondern stehe als Fraktionsvorsitzende in einem Interessenkonflikt zwischen der Partei und der Regierung. Die Partei brauche aber einen eigenen Kopf, um die Erneuerung zu schaffen, die Nahles schon öfter versprochen habe.
In den Führungszirkeln der SPD wurde die Kandidatur von Simone Lange lange Zeit nicht ernst genommen und eher ignoriert. Mittlerweile aber räumen sogar führende Genossen ein, es sei „gut“, dass es auf dem Parteitag eine echte Wahl gebe. 100 Prozent, wie vor etwas mehr als einem Jahr Martin Schulz, hätte Nahles ohnehin nicht bekommen, eher deutlich weniger. „Bei 70 Prozent ohne Gegenkandidat hätten alle von einem Debakel und einem geplatzten Neustart gesprochen“, räumt ein Spitzengenosse gegenüber dieser Redaktion ein. „Wenn sie jetzt bei einer Gegenkandidatin 70 Prozent bekommt, gilt es als ehrliches Ergebnis und Ausdruck einer gelebten innerparteilichen Demokratie.“
Lange, so glauben in der SPD viele, werde trotz der absehbaren Niederlage auf dem Parteitag bald schon eine wichtige Rolle in der SPD spielen – in ihrem Landesverband Schleswig-Holstein. Dort stehen im nächsten Jahr Wahlen zum Landesvorsitz an und Amtsinhaber Ralf Stegner hat nicht nur Freunde und Anhänger, sondern auch Kritiker und Gegner, die nach der verlorenen Landtagswahl im Mai 2017 einen Neuanfang an der Parteispitze in Kiel fordern.
Die erst 41-jährige Lange könnte die personelle Erneuerung verkörpern. Immerhin, ein Streitpunkt zwischen der Parteispitze um Interims-Parteichef Olaf Scholz und der Gegenkandidatin aus Flensburg wurde kurz vor dem Parteitag noch einvernehmlich entschärft. Nachdem sich Lange beschwert hatte, dass man ihr nur zehn Minuten für ihre Bewerbungsrede auf dem Parteitag geben wolle, einigte man sich darauf, dass die beiden Kandidatinnen um das Amt der Parteichefin jeweils 30 Minuten sprechen dürfen.
Leidenschaftliche Rednerin
Dass Nahles eine couragierte und leidenschaftliche Rednerin ist, ist bekannt. Auf dem letzten Sonderparteitag in Bonn im Januar brachte sie praktisch im Alleingang die Zustimmung für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union zustande. Aber auch Lange will mit einer „energischen Rede“ die Herzen der 600 Delegierten im Wiesbadener Congress-Centrum erreichen und mit der Botschaft für sich werben: „Die SPD muss sich wieder mehr für die Menschen öffnen. Wir sind nicht für uns da, sondern für die ganze Bevölkerung.“