Die Menschen in Niedersachsen sind am Sonntag zur Wahl eines neuen Landtags aufgerufen. In Umfragen lieferten sich SPD und CDU zuletzt ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen um die Position der stärksten Partei, angesichts diverser Koalitionsoptionen ist mit einer schwierigen Regierungsbildung zu rechnen.
Bei den vorgezogenen Landtagswahlen in Niedersachsen sind am kommenden Sonntag 6,1 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, einen neuen Landtag und damit eine neue Landesregierung zu wählen. Ministerpräsident Stephan Weil von der SPD, der in Hannover in einer rot-grünen-Koalition regiert, wird von Bernd Althusmann von der CDU herausgefordert. Die Landtagswahlen im nach Bayern zweitgrößten Flächenstaat im Bund finden drei Monate vor dem ursprünglich angesetzten Termin statt.
Stephan Weils rot-grünes Bündnis regierte ab 2013 nur mit der denkbar knappen Mehrheit von einer Stimme. Die war dahin, als die Landtagsabgeordnete Elke Twesten von den Grünen sich im August der CDU-Fraktion anschloss. Twesten war von ihrer Partei nicht mehr für den Landtag aufgestellt worden. Ihr Wechsel sorgte für einen massiven Aufschrei bei SPD und Grünen. Die sprachen von Verrat, witterten ein „unmoralisches Angebot der CDU“ – was Spitzenkandidat Bernd Althusmann zurückweist.
In der Bildungspolitik ist die Inklusion, der gemeinsame Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern, sehr umstritten. Weil möchte sie weiter ausbauen. Der CDU-Herausforderer will eine Atempause bei der Inklusion. Doch es war Althusmann, bis 2013 Kultusminister der Vorgängerregierung, der die Inklusion eingeführt hatte. Heiß diskutiert werden Fragen der inneren Sicherheit: Althusmann fordert 3000 zusätzliche Polizisten. Auch die Volkswagen-Diesel-Affäre spielt in den Wahlkampf hinein – am Wolfsburger Autobauer hängen zahlreiche Arbeitsplätze im Land. Und der auf rund 100 Tiere angewachsene Bestand an Wölfen macht vielen Niedersachsen große Angst. Zwischen den Parteien gehen die Meinungen weit auseinander, ob die Wölfe streng geschützt (Grüne) oder massiv bejagt (CDU) werden sollen. Einig sind sich immerhin alle, dass „Problemwölfe“ abgeschossen werden müssen – notfalls ganze Rudel, wie Ministerpräsident Weil ankündigte.
Für die angeschlagene Bundes-SPD, die das bislang schlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl noch nicht verdaut hat, wäre ein Sieg von Stephan Weil der ersehnte Silberstreif am Horizont. Ein guter Wahlausgang würde die Entscheidung von Parteichef Martin Schulz rechtfertigen, in die Opposition zu gehen. Schulz könnte damit seine Chancen, im Amt zu bleiben, erheblich steigern. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre CDU haben bei der Bundestagswahl einen massiven Dämpfer bekommen und sind nun dringend auf ein Erfolgserlebnis angewiesen. Aus Angst, in den Sog des schlechten Bundestagswahlergebnisses zu geraten, ist Bernd Althusmann zuletzt sogar etwas von der Kanzlerin abgerückt. „Es gab Fehleinschätzungen in der Flüchtlingspolitik“, sagte er.
Alles deutet auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Laut einer aktuellen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen würden 34,5 Prozent der Befragten die SPD wählen, 33 Prozent die CDU. Auf jeweils neun Prozent kämen FDP und Grüne, die Linke würde mit fünf Prozent den Einzug in den Landtag knapp schaffen. Die AfD bekäme sieben Prozent. Das hieße: Weder für eine rot-grüne Regierung wie bisher, noch für die von Althusmann favorisierte schwarz-gelbe Koalition würde es reichen.
Nur theoretisch ist eine ganze Reihe von Bündnissen möglich. Das liegt am Fall Twesten. Zwischen der CDU auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite ist die Stimmung auf dem Gefrierpunkt. Der Ton zwischen Weil und Althusmann ist ungewöhnlich scharf. So erscheint eine Große Koalition eher unwahrscheinlich, zumal die Bundes-SPD mit ihrer Absage an eine weitere Beteiligung an einer schwarz-roten Koalition auf Bundesebene den Ton vorgegeben hat. Auch die Bildung eines Jamaika-Bündnisses aus CDU, FDP und Grünen, wie es auf Bundesebene sondiert wird, dürfte in Hannover aufgrund der Twesten-Affäre noch weit schwerer sein als in Berlin. Die Grünen sind der CDU, gelinde gesagt, nicht grün. Umgekehrt hält die CDU die Niedersachsen-Grünen für viel zu links in ihrer Ausrichtung.
Die FDP hat sich eindeutig auf die Seite der CDU geschlagen. So gut wie ausgeschlossen scheint deshalb auch eine sogenannte Ampel-Koalition, ein Bündnis aus SPD, Grünen und FDP. Zumindest wenn die FDP dabei bleibt, für diese Variante nicht zur Verfügung zu stehen.
Ein Bündnis von SPD, Grünen und Linkspartei – sollte es diese in den Landtag schaffen – ist nicht unwahrscheinlich. Es wäre die erste derartige Regierung in einem westdeutschen Bundesland. Ministerpräsident Weil hat diese Möglichkeit nie eindeutig ausgeschlossen. Zuletzt hat SPD-Chef Schulz gesagt, dass er gegen diese Option keine Einwände hätte. Die Linkspartei gilt in Niedersachsen zudem als gemäßigter und sachorientierter als auf Bundesebene. Mit der eindringlichen Warnung vor Rot-Rot-Grün hat sich zuletzt Bundeskanzlerin Merkel in den Niedersachsen-Wahlkampf eingeschaltet.
Dass die Rechtspopulisten in Niedersachsen in den Umfragen schwächer dastehen als auf Bundesebene, dürfte nicht nur mit Querelen im Landesvorstand zu tun haben. Gegen den Chef der Niedersachsen-AfD sind Vorwürfe laut geworden, er habe sich aus der Parteikasse bedient – was er bestreitet. Ein Ermittlungsverfahren läuft. Die Flüchtlingspolitik hat im Landtagswahlkampf nur eine untergeordnete Rolle gespielt.