zurück
LONDON
Sozialist Corbyn führt Labour-Partei
Jeremy Corbyn       -  Jeremy Corbyn: Der neue Chef der britischen Arbeiterpartei
Foto: Facundo Arrizabalaga, dpa | Jeremy Corbyn: Der neue Chef der britischen Arbeiterpartei
byl
 |  aktualisiert: 11.12.2019 14:49 Uhr

Der „Bürgerkrieg“ bei Labour, wie ihn Medien nannten, brach nur Minuten nach der Verkündung einer Sensation aus: Der Sozialist Jeremy Corbyn wurde zum neuen Chef der britischen Arbeiterpartei gekürt – und fast die Hälfte seines Schattenkabinetts meuterte. Dabei hatte der 66-Jährige, der seit mehr als drei Jahrzehnten als radikaler Hinterbänkler im Parlament sitzt, mit 59,5 Prozent der Stimmen einen überwältigenden Sieg eingefahren. Und sich überraschend deutlich gegen seine drei Mitbewerber durchgesetzt, deren Programme sich kaum vom bisherigen Labour-Weg unterschieden.

Corbyn? Ein unerfahrener Außenseiter. Ein leidenschaftlicher Sozialist. Ein notorischer Rebell. Und offenbar genau das, was sich die Mehrheit der Sozialdemokraten, die seit der desaströsen Niederlage bei der Parlamentswahl im Mai in einer tiefen Identitätskrise stecken, wünscht. Damals trat der glücklose Vorsitzende Ed Miliband zurück. Der Partei steht jetzt ein fundamentaler Wandel bevor.

Corbyn gehört zu den energischsten Kritikern der Sparpolitik der konservativen Regierung, fordert höhere Steuern für Reiche und den Austritt aus der Nato, eine Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und die Abschaffung der britischen Atomwaffen. Seine Pläne sind ein Albtraum für jene Parteikollegen, die den wirtschaftsfreundlichen New-Labour-Kurs des Ex-Premiers Tony Blair unterstützen. Und eine Katastrophe für das Labour-Establishment.

Auch die Konservativen geiferten sofort, Labour sei nun ein „ernsthaftes Risiko für die Sicherheit unserer Nation, unserer Wirtschaft und unserer Familien“. Konservative Medien zeigten sich gestern fast schadenfroh: „Rot und beerdigt“, hieß es bei der „Mail on Sunday“, der „Sunday Express“ schrieb „Bye Bye Labour“ und der „Sunday Telegraph“ titelte „Der Tod von New Labour“.

Corbyns größte politische Herausforderung wurde denn auch sofort nach Verkündung des Abstimmungsergebnisses offenbar: Noch während er seine Antrittsrede hielt, legte mit Jamie Reed der erste Minister im Schattenkabinett sein Amt nieder, zahlreiche Kollegen folgten am Wochenende seinem Beispiel. Die Partei ist tief gespalten. Viele werden dem radikalen Klassenkämpfer die Gefolgschaft verweigern. Oder sind zumindest auf Konfrontationskurs mit seinem Retro-Programm. Das weiß auch Corbyn. Dementsprechend versöhnlich trat er auf. Die Partei werde „vereint und absolut entschlossen“ für eine „bessere und gerechtere Gesellschaft“ kämpfen, versprach der Mann mit dem weißen Vollbart und den unumstößlichen Prinzipien. Um eine starke Opposition zu bilden, braucht er eine Partei, die zusammenhält und einen Konsens sucht und findet.

Derweil wird Corbyn von seinen Fans gefeiert wie ein Superstar. Er spricht sie an, wenn er etwa gegen Banken und die Finanzelite wettert. Die Kluft zwischen Arm und Reich klafft im Königreich wie in kaum einer anderen Industrienation auseinander, der Aufschwung kommt nur bei wenigen an.

Corbyn tritt als Gegenmodell zu seinen von PR-Profis herausgeputzten Politikkollegen in Westminster auf. Er wirkt authentischer und man nimmt ihm ab, was er sagt. Das verfängt bei der Basis, die noch immer unter Tony Blairs Entscheidung zum Irakkrieg leidet. Der unbeliebte Ex-Premier führte die Schlammschlacht gegen Corbyn an und warnte vor einer „Vernichtung“ der Partei. Viele Mitglieder befürchten, Labour könnte die fatalen Fehler der 80er Jahre wiederholen, als Großbritannien in einem Chaos aus Klassenkämpfen und Misswirtschaft versank. Doch der alte Weg soll nun der neue sein. Militärische Einmischungen etwa lehnt der Pazifist ab. Das dürfte bei Abstimmungen im Parlament auch für Premier David Cameron zum Problem werden. Schon bald könnte es zum ersten Zusammenstoß kommen, wenn Cameron über Luftangriffe in Syrien votieren lässt.

Ist Corbyn von etwas überzeugt, scheut er die Konsequenzen nicht. Als er sich mit seiner zweiten Ehefrau nicht einigen konnte, auf welche Schule der älteste Sohn des Paares gehen sollte, ließ er sich scheiden. Seine Frau hatte auf einem Gymnasium bestanden, für Corbyn kam nur die lokale Gesamtschule infrage. Der Altlinke hechelt keinen Umfrageergebnissen hinterher, sondern bleibt sich seit Jahrzehnten treu. Nachdem sein Sieg verkündet wurde, eilte er aus dem Konferenzzentrum zu einer Kundgebung für die Aufnahme von mehr Flüchtlingen.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Arbeiterparteien
Aufständische und Rebellen
Bürgerkriege
David Cameron
Ed Miliband
Labour Party
Misswirtschaft
Nato
Premierminister
Sensationen
Sozialdemokraten
Sozialistinnen und Sozialisten
Tony Blair
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen