Noch einmal wandte sich Irina Bokova am Donnerstag an die Welt. „Jede Zerstörung von Palmyra wäre nicht nur ein Verbrechen, sondern ein unwiederbringlicher Verlust für die Menschheit“, plädierte die Unesco-Chefin in ihrer Videobotschaft aus Paris. Palmyra sei eine Wiege der Zivilisation, sie gehöre der gesamten Erde und jeder sollte beunruhigt sein über das, was sich dort abspiele.
Zum großen Entsetzen scheint seit dem späten Mittwochabend nun auch das Schicksal der einzigartigen antiken Ruinen-Metropole besiegelt, die seit 1980 zum Weltkulturerbe gehören. Nach siebentägigen schweren Gefechten mit fast 500 Toten ließen die Soldaten des Assad-Regimes die umkämpfte Stadt mit ihren 70 000 Einwohnern binnen weniger Stunden im Stich. Seitdem sind die Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) die neuen Herren in Palmyra, deren Neustadt Tadmur heißt. Noch steht das weltberühmte Ensemble, doch es scheint nur eine Frage der Zeit, bis es im Namen des Islam genauso dem Erdboden gleichgemacht wird wie die assyrischen Königstädte Niniveh, Hatra und Nimrud nahe der nordirakischen Großstadt Mosul.
Syrische Truppen kapitulierten
In Syrien beherrscht der IS nach Angaben der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ inzwischen die Hälfte des Territoriums, von dem jedoch viele Landstriche nur sehr dünn besiedelt sind. Alliierte Kampfflugzeuge griffen in die Kämpfe um Palmyra nicht ein, weil das den Assad-Truppen geholfen hätte. Dennoch sind militärische Beobachter überrascht, wie chaotisch die syrischen Truppen vor dem IS kapitulierten, ähnlich wie die irakischen Einheiten letzte Woche in Ramadi. „Sie haben ganz Palmyra unter Kontrolle, viele Familien versuchen, aus der Stadt zu fliehen, die Kampfflugzeuge des Regimes bombardieren weiter“, zitierte der Sender „Al Jazeera“ einen Aktivisten. Die Dschihadisten besetzten den Flughafen, die Zentrale der Staatssicherheit und das berüchtigte Tadmur-Gefängnis, wo sie mehr als 1000 Insassen befreiten. Im Hof des Gebäudes sind auf einem Video jubelnde Menschen zu sehen, die unter „Allah ist groß“-Rufen ein Plakat von Bashar al-Assad abfackeln. Auch die beiden wichtigen Gasfelder Arak und al-Hail fielen in die Hände der Sieger.
Abwehrraketen aus den USA
„Die humane, zivilisierte Gesellschaft hat die Schlacht gegen die Barbarei verloren“, zitiert Reuters den Chef der syrischen Antikenverwaltung, Maamoun Abdulkarim. Nach seinen Angaben wurden in den letzten zwei Monaten Hunderte Ausstellungsstücke aus dem Museum von Palmyra in Sicherheit gebracht. Nur große Statuen und Sarkophage habe man zurücklassen müssen. Augenzeugen berichteten, noch am Mittwoch hätten die letzten vier Lastwagen die Stadt verlassen.
Mit der Eroberung von Palmyra könnten die Anhänger des selbst ernannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi nun auch Homs und die Hauptstadt Damaskus ins Visier nehmen, die beide rund 200 Kilometer entfernt sind. Auch im Irak rollt die Angriffswelle der Gotteskrieger, die beim Sturm auf Ramadi große Mengen an Militärgerät erbeuteten. Bagdads Premierminister Haider al-Abadi flog nach Moskau, um Nachschub an Waffen auszuhandeln. US-Präsident Barack Obama sagte die Lieferung von Panzerabwehrraketen zu, mit denen sich die rollenden Bomben des IS effektiver bekämpfen lassen. Deren Kämpfer brechen bei ihren Angriffen die Verteidigungsbarrieren mit Selbstmordattentätern auf. Sie rammen ihre mit Sprengstoff beladenen Fahrzeuge in die Linien der Gegner und sind mit herkömmlichen Panzerfäusten nicht rechtzeitig zu stoppen.
Unesco-Weltkulturerbe in der syrischen Wüste
Die Oasenstadt Palmyra in der zentralsyrischen Wüste war eines der herausragenden Zentren im Altertum. Die Unesco erklärte die Ruinen der ehemaligen Handelsmetropole der legendären Königin Zenobia 1980 zum Weltkulturerbe. Durch ihre Lage an einer der wichtigsten Handelsrouten zwischen dem Römischen Reich, Persien, Indien und China gewann Palmyra in den ersten Jahrhunderten nach Christus stetig an Bedeutung. Nach ihrer Blütezeit wurde die Stadt im Jahr 272 von den Römern zerstört. Baal-Tempel, Triumphbogen und weitere imposante Ruinen im Tal der Gräber machen das vor dem syrischen Bürgerkrieg beliebte Touristenziel zu einem der bedeutendsten Komplexe antiker Bauten im Nahen Osten. Heute leben vor allem sunnitische Muslime in einer gleichnamigen, neben den Ruinen gelegenen Stadt. Sie befindet sich nordöstlich von Damaskus. Text: Dpa