Bunte Bilder, einfache Texte, kleine interaktive Spiele. Auf den ersten Blick wirkt die Handy-App Huruf (Buchstaben), die sich an arabisch sprechende Kinder im Grundschulalter wendet, harmlos. Mädchen und Buben sollen mit ihrer Hilfe lesen und schreiben lernen. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Spiele Gewalt und den Dschihad, den „Heiligen Krieg gegen Ungläubige“, verherrlichen. Viele Motive und Begriffe entspringen der militaristischen und dschihadistischen Bildsprache.
Die Frage, wie und warum junge Menschen in Europa sich radikalisieren, beschäftigt Wissenschaftler und Politik schon lange. Dabei wird schnell klar: Die oben genannte App ist kein Einzelfall.
Nach Erkenntnissen der Bundeszentrale für politische Bildung und des Netzwerks jugendschutz.net, das von den zuständigen Ministerien der Länder gegründet wurde und Jugendschutzverstöße im Netz aufspürt, hat die Terrororganisation „Islamistischer Staat“ (IS) in den vergangenen Monaten gleich mehrere solcher Apps für Smartphones oder Tablet-Computer veröffentlicht.
Sie richten sich gezielt an Kinder und Jugendliche und sollen sie schon frühzeitig auf den Krieg vorbereiten. Parallel wird im Internet massiv Propaganda verbreitet, die Jugendliche auch in Deutschland radikalisiert.
Diese Angebote seien „hochprofessionell und extrem jugendaffin“ gestaltet, sagt Stefan Glaser, stellvertretender Leiter von jugendschutz.net. „Mit einem perfiden Mix aus Grauen, Action und Pop-Kultur ködern Islamisten Jugendliche.“ Der Dschihad werde als „Abenteuer verklärt“, gleichzeitig rechtfertige der IS seine grausamen Taten und rufe zu Gewalt und Terror in den westlichen Ländern auf.
In Videos würden dabei gezielt Kinder als „Henker und Kämpfer“ inszeniert und sogar bei Erschießungen und Hinrichtungen gezeigt. Nach den Ereignissen in Würzburg, Ansbach, München oder Nizza hätten sich im Internet die Aufrufe zu Nachahmungstaten gehäuft.
Nach Erkenntnissen Glasers und seines Teams, die in den ersten zehn Monaten des Jahres bereits 6300 Sichtungen im Internet vorgenommen und dabei mehr als 1000 Verstöße gegen die Jugendschutzbestimmungen festgestellt haben, werden Jugendliche auch bei Facebook, Twitter oder dem Videodienst Youtube mit – in der Regel harmlosen Inhalten – angelockt.
Mit nur einem Klick gelangen sie von dort auf die Chat-Plattform „Telegram“, über die massiv dschihadistische Propaganda betrieben wird. Der Dienst mit mehr als 100 Millionen Nutzern weltweit, hinter dem der Russe Pawel Durot steht, hat keinen festen Standort, sondern zieht von Stadt zu Stadt in verschiedenen Ländern und weigert sich im Gegensatz zu Facebook, Twitter oder Youtube, Inhalte, die gegen Gesetze verstoßen, zu löschen.
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, kritisiert das Verhalten von „Telegram“ scharf und spricht von einem „unhaltbaren Zustand“. Es sei praktisch unmöglich, gegen die Verbreitung der Propaganda rechtlich vorzugehen.
Zudem stehe die klassische politische Bildungsarbeit vor völlig neuen Herausforderungen. „Mit gedrucktem Papier kann man nur wenig erreichen“, räumte Krüger ein. So versuche auch seine Organisation mithilfe einer im Netz bekannten Youtube-Bloggerin Jugendliche zu erreichen.
Gleichzeitig appelliert er an die Politik, in den Schulen den Kampf gegen die islamistische Hasspropaganda zu verstärken. „Die Schule ist der einzige Ort, an dem wir alle Kinder erreichen.“ Nach seiner Ansicht sollte die politische Bildung deshalb bereits in der Grundschule beginnen. Bereits Dritt- und Viertklässler seien offen für die Vermittlung von Werten.