Mitten in einer europäischen Metropole wurden drei Frauen über 30 Jahre lang als Sklavinnen gehalten. Die Polizei spricht von „Gehirnwäsche“ und von „unsichtbaren Handschellen“, die den Opfern angelegt worden seien.
Jahrzehntelange physische und psychische Gewalt mitten in einer zivilisierten, westlichen Gesellschaft – wie kann das sein? Diese Frage stellt sich am Tag nach Bekanntwerden der fast unerträglichen Nachricht aus London. Der Fall wirft ein Licht auf die Sklaverei als ein Phänomen der modernen Gesellschaft, das nach den Worten des britischen Innen-Staatssekretärs James Brokenshire viele „in den Geschichtsbüchern“ vermuteten. „So schlimm dieser Fall auch ist - er ist kein Einzelfall“, sagt Ranya Alkadamani von der australischen Walk-Free-Foundation, die den World Slavery Index erstellt.
Wie genau das Leben der drei Frauen in London in den vergangenen 30 Jahren aussah, wie sie in die Gewalt ihrer mutmaßlichen Peiniger kamen, was sie alles durchmachten und warum sie nicht früher fliehen konnten – all diese Fragen blieben am Freitag noch weitgehend unbeantwortet. Die Frauen wurden geschlagen und auf diese Weise zu einer mentalen Abhängigkeit gezwungen, wie Scotland Yard es beschrieb. „Wir wissen, dass es physische Gewalt gegeben hat“, sagte Detective Inspector Kevin Hyland von der Spezialeinheit gegen Menschenhandel bei Scotland Yard, die den Fall mit 37 Beamten bearbeitet.
Die Polizei schirmte die Frauen im Alter von 30, 57 und 69 Jahren hermetisch ab. Selbst der ansonsten erfinderischen britischen Presse gelang es zunächst nicht, das Geheimnis um die Adresse im südlichen Stadtteil Lambeth, wo sich das Drama abgespielt haben soll, zu lüften.
Immer deutlicher wurde am Freitag aber die Dramatik, die mit der Befreiung der Frauen verbunden war. Die 57 Jahre alte Irin hatte sich nach einer Fernsehsendung an eine Hotline gewandt – ein „Akt größter Tapferkeit“ wie die Vorsitzende der Hilfsorganisation Freedom Charity, Aneeta Prem es nannte. „Es gehörte zu den schlimmsten Dingen, die wir je gehört hatten“, sagte Prem in der BBC. Umso emotionaler ging es zu, als die Frauen dann am 25. Oktober – eine Woche nach dem Anruf – endlich frei waren. „Der Jubel unserer Mitarbeiter war wohl in ganz London zu hören“, sagte Prem. Die 57-Jährige und die 30 Jahre alte Frau, die nach Einschätzung der Polizei ihr komplettes bisheriges Leben in Gefangenschaft verbracht hatte, fielen ihr um den Hals. Die 69-Jährige aus Malaysia wurde wenig später befreit. Fast vier Wochen dauerte es dann, bis die Polizei genug Beweise gesichert hatte, um die mutmaßlichen Peiniger der Frauen festzunehmen.
„Es ist nicht so offensichtlich brutal wie in anderen Fällen“, sagte Rodhouse. Es gelte ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie die Peiniger ein solch hohes Maß an Kontrolle über ihre Opfer gewinnen konnten.
Das Ehepaar aus dem Ausland, beide 67 Jahre alt, ist inzwischen gegen Kaution wieder auf freiem Fuß, jedoch offenbar nicht wieder in dem Haus, das die beiden jahrzehntelang als Gefängnis nutzten. Was der Grund für die Freilassung war, blieb unbekannt. Bekannt wurde, dass die beiden 1970 schon einmal festgenommen worden waren.
Leben mit dem Peiniger
Gefangen, missbraucht, geschlagen: Immer wieder wird aufgedeckt, dass Menschen jahrelang bei ihren Peinigern leben müssen.
2013: Rund zehn Jahre nach ihrer Entführung entkommen im Mai drei Frauen in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio ihrem Kidnapper. Amanda Berry, Gina DeJesus und Michelle Knight waren zwischen 2002 und 2004 verschwunden. Ihr Peiniger wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Später wird er erhängt in seiner Gefängniszelle gefunden.
2008: In Österreich wird der Inzestfall von Amstetten bekannt. Josef Fritzl hat seine Tochter 24 Jahre lang in ein Kellerverlies gesperrt. Er missbraucht seine Tochter, sie bringt sieben Kinder auf die Welt, sechs überleben. Die Behörden werden aufmerksam, als Fritzl die Tochter in ein Krankenhaus bringt.
2006: Die 18 Jahre alte Natascha Kampusch aus Wien taucht acht Jahre nach ihrem Verschwinden wieder auf. Das Mädchen war mit zehn Jahren entführt und in einem Verlies gefangen gehalten worden. Nach Kampuschs Flucht nahm sich der Kidnapper das Leben.
1996: Monatelang wird Sabine Dardenne im Keller des Hauses von Marc Dutroux gefangen gehalten, bis die Polizei ihr Martyrium beendet. Die damals Zwölfjährige war auf dem Weg zur Schule, als sie der belgische Kinderschänder vom Fahrrad riss. Außer Dardenne waren noch weitere Opfer von Dutroux eingesperrt.
Der World Slavery Index nennt zudem Zahlen zur Sklaverei: Demnach leben weltweit 29 Millionen Menschen unter Umständen, die als Sklaverei bezeichnet werden können: Zwangsarbeiter, Hausdiener, Prostituierte. In Deutschland, das laut Index auf Platz 136 von 162 untersuchten Ländern liegt, sollen demnach rund 10 000 Menschen wie Sklaven leben, in Großbritannien rund 4500. Zuletzt war das Emirat Katar wegen Zwangsarbeit in die Schlagzeilen geraten. Das Centre for Social Justice fordert die Einrichtung eines Sklaverei-Beauftragten bei der britischen Regierung. „Sozialarbeiter im ganzen Land sind nicht ausreichend gerüstet, um die Anzeichen für Sklaverei zu erkennen.“ Text: dpa