Ein Skandal um Spenderorgane erschüttert die Göttinger Universitätsklinik. Ein ehemaliger Oberarzt soll im großen Stil Akten gefälscht und die eigenen Patienten beim Empfang von Spenderlebern bevorzugt haben. Der Fall sei unglaublich, sagte der Vorsitzende der Ständigen Kommission Organtransplantation, Hans Lilie, am Freitag der Nachrichtenagentur dpa. Er habe sich nie vorstellen können, dass ein deutscher Arzt so handele. Nach Angaben der „Süddeutsche Zeitung“ könnten sich die Vorwürfe zum größten Betrugsfall in der Geschichte der deutschen Transplantationsmedizin ausweiten.
Der 45-Jährige steht im Verdacht, in mindestens 25 Fällen Daten manipuliert zu haben. Der Krankheitszustand seiner Patienten soll dabei kritischer dargestellt worden sein, um die Chancen auf Spenderorgane zu verbessern. Die Staatsanwaltschaft in Braunschweig ermittelt wegen Bestechlichkeit.
Der Vorstand des Uniklinikums zeigte sich am Freitag erschüttert und rätselte über die Hintergründe. Geld könnte eine Rolle gespielt haben, sagte Vorstandsmitglied Martin Siess. Bisher sei aber nichts erwiesen. Möglicherweise habe der Mediziner Helfer gehabt. „Es ist unwahrscheinlich, dass nur eine Person an den Manipulationen beteiligt war“, sagte er. Dazu seien Zahl und Umfang der Manipulationen zu groß gewesen.
Geld von russischen Patienten?
Um die Affäre aufzuklären, hat die Bundesärztekammer eine Task Force eingerichtet. Für die Staatsanwaltschaft Braunschweig ist der Mediziner kein Unbekannter. Die Ermittler seien bislang aber nur über einen Fall von manipulierten Krankenakten informiert gewesen, sagte Sprecher Klaus Ziehe. Dabei geht es um den Verdacht, der 45-Jährige könnte Geld von einem russischen Patienten dafür angenommen haben, dass diesem in Göttingen bevorzugt eine Spenderleber implantiert wurde.
Einem Krankenhaussprecher zufolge hat der ehemalige Oberarzt alle Vorwürfe bestritten. Die Klinik hatte sich von dem Mediziner getrennt, nachdem der erste Manipulationsfall bekannt geworden war.
„Wenn die Vorwürfe zutreffen, dann müssen die Gerichte die Verantwortlichen sehr hart und abschreckend bestrafen“, sagte SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach den Zeitungen der WAZ-Gruppe. Er sprach von einem „krassen Einzelfall“. „Hier haben weder die Ärztekammer noch die Göttinger Uniklinik versagt.“ Wenn Laborwerte gefälscht würden, sei das durch Kontrolle nicht in den Griff zu bekommen.
Spenderorgane werden nach einem streng festgelegten Kriterienkatalog von der Vermittlungsstelle Eurotransplant im holländischen Leiden an die Patienten in ihren acht Mitgliedsländern vergeben. Dabei geht es nach Dringlichkeit. Der Göttinger Arzt soll den Gesundheitszustand seiner Patienten bewusst schlechter dargestellt haben, damit sie von Eurotransplant schneller eine Spenderleber zugeteilt bekamen. Er habe zum Beispiel vorgegaukelt, dass ein Mann, der auf eine Spenderleber wartete, auch Nierenprobleme hatte und Dialyse-Patient war, erläuterte Lilie.
Ob in Göttingen Patienten gestorben sind, die auf der Empfängerliste weit vorn standen, wegen möglicher Manipulationen aber später oder überhaupt kein Spenderorgan erhalten haben, sei unklar, sagte Klinikvorstand Siess. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtete, war gegen den Oberarzt bereits in der Vergangenheit ermittelt worden, weil er eine für das Klinikum Regensburg vorgesehene Spenderleber mit nach Jordanien nahm, um sie dort einzusetzen.
„Respektlos und verwerflich“
Das Bundesgesundheitsministerium hat eine schonungslose Aufklärung der Affäre gefordert. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, müsse dies Konsequenzen haben, sagte Ministeriumssprecher Christian Albrecht. Es sei „nicht nur gesetzeswidrig, sondern aus unserer Sicht auch höchst respektlos und ethisch natürlich in höchstem Maße verwerflich, wenn Organe nicht nach medizinischer Dringlichkeit transplantiert werden“.
Regeln für die Organspende
In Deutschland kommen auf eine Million Einwohner nur knapp 15 Organspender. Damit liegt Deutschland international im unteren Drittel. In der Bundesrepublik gilt die erweiterte Zustimmungslösung. Danach musste vorab das Einverständnis zur Organentnahme nach einem etwaigen Hirntod gegeben werden, etwa mit einem Spenderausweis. Um die Spendenbereitschaft zu erhöhen, wurde das Transplantationsgesetz geändert. Ende Mai beschloss der Bundestag als Ergänzung die Einführung der Entscheidungslösung, am 15. Juni gab der Bundesrat grünes Licht. Danach soll künftig jeder Bürger mindestens einmal im Leben gefragt werden, ob er Organe spenden will oder nicht. Die Krankenkassen sollen den Versicherten ab 16 Jahren Informationen und einen Organspendeausweis zuschicken. Text: dpa
ONLINE-TIPP
Den Organspendeausweis können Sie aus dem Internet herunterladen: www.mainpost.de/zeitgeschehen