Die Kanzlerin urlaubt, der Vizekanzler darf sich in ihrer Abwesenheit mit einem besonders heiklen Thema herumschlagen. Der auf einen Schmusekurs zu den Gewerkschaften bedachte SPD-Chef Sigmar Gabriel wird von diesen angegangen wie lange nicht mehr. Sie fürchten ein Aus für viele deutsche Kohlekraftwerke. Auf dem Tisch des Bundeswirtschaftsministers türmen sich die Protestbriefe. Der Grund: Gabriel will über 20 Jahre alte Kohlekraftwerke zu einer Klimaabgabe verpflichten, wenn ein bestimmter Kohlendioxidausstoß überschritten wird. Sein Ziel: Dadurch sollen zusätzliche 22 Millionen Tonnen Kohlendioxid bis 2020 eingespart werden – der deutsche Gesamtausstoß lag 2014 bei 912 Millionen Tonnen. So soll Angela Merkels Klimaziel von 40 Prozent weniger CO2 im Vergleich zu 1990 gerettet werden. Es ist letztlich der Konflikt zwischen Umwelt- und Wirtschaftsinteressen.
Das Kabinett hatte die Einsparvorgabe im Dezember beschlossen, die Umsetzung aber offengelassen. Gabriel hatte zwischenzeitlich durchaus gezweifelt, ob die 40 Prozent noch zu schaffen sind. Die Kanzlerin hatte das Ziel in der vorherigen Großen Koalition – mit dem damaligen Umweltminister Gabriel als Adjutanten – quasi zur Staatsräson erhoben. Bisher sind erst 27 Prozent geschafft, mit der Kohleabgabe soll im Jahr der G7-Präsidentschaft Tatkraft bewiesen werden. Gabriel will nun einen Dialog über den Plan, er will Kohlebranche und Wirtschaft nicht verprellen. Zudem haben Stein- und Braunkohle noch einen Stromanteil von 43,2 Prozent. Die Kraftwerke sichern oft die Versorgung, denn trotz mehr Wind- und Solarenergie bleibt das Problem der Wetterabhängigkeit.
Geht es nach dem Atom- nun auch um einen schrittweisen Ausstieg aus der Kohlekraft? Gabriel verneint das, die Branche fürchtet aber einen Dominoeffekt. Sie sieht für Verschärfungen keinerlei Spielraum, denn die Energiewende wälzt den Markt im Rekordtempo um. Durch den Zuwachs an Ökostrom rechnen sich viele Kraftwerke kaum noch. Die Betriebsräte der Energiekonzerne E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW warnen in einem Brandbrief an Gabriel: „Die Ängste und Sorgen der Belegschaft sind groß.“ Gerade in den Kohlerevieren der Lausitz und im Rheinland. Bei einer Umsetzung müssten Kraftwerke sofort stillgelegt werden, „denn Strafabgaben oder die deutliche Reduzierung der Benutzungsstunden überleben diese Anlagen wirtschaftlich einfach nicht“, mahnen sie.
Ver.di-Chef Frank Bsirske – auch Vizechef im Aufsichtsrat von RWE – sieht bis zu 100 000 Arbeitsplätze in Gefahr. Michael Vassiliadis, Chef der Bergbaugewerkschaft IGBCE, warnt sogar vor dem „Kollaps der großen Energieversorger und dem sozialen Blackout ganzer Regionen“. Auch SPD-Landesregierungen sind dagegen. Die Unionsfraktion ließ ein Treffen mit Gabriel platzen.
Werden zu viele Kohlekraftwerke stillgelegt, drohen Engpässe und höhere Strompreise – wenn zum Beispiel gerade im Winter mehr Strom im Ausland eingekauft werden müsste oder mehr auf die teurere Gaskraft gesetzt wird. Anlagen können zwar derzeit mit auf die Strompreise umgelegten Entschädigungen zum Weiterbetrieb gezwungen werden, aber eine Dauerlösung ist das sicher nicht. Zudem drohen weitere Verwerfungen bei den Energiekonzernen. Schon jetzt ist unklar, ob ihre Rücklagen für den Rückbau der Atomkraftwerke reichen werden.