Sicherheitspolitiker aus Ost und West sehen die Gefahr einer ungewollten Eskalation des Ukraine-Konflikts. Zu denen, die davor warnen, in einen „Krieg aus Versehen“ hineinzurutschen, gehört der Würzburger Verteidigungsexperte Walter Kolbow (SPD). Der frühere Staatssekretär im Verteidigungsministerium ist zu Fragen der deutschen und europäischen Sicherheitspolitik in verschiedenen Gremien als Berater tätig.
Walter Kolbow: Auseinandersetzungen sind im Bereich des Möglichen. Die Frage ist, was wir an Möglichkeiten der strukturierten Reaktion haben. Wir haben ja eine Wehrverfassung von 1955. Von daher sind wir eigentlich bestens darauf eingerichtet, uns im Bündnis zu verteidigen. Aber dann haben wir uns aus den verschiedensten Gründen umgestellt auf Auslandseinsätze.
Kolbow: Die USA waren durch die Attacke beispielsweise am World Trade Center angegriffen worden. Davon haben sie ein sicherheitspolitisches Trauma, ähnlich wie vom Angriff auf Pearl Harbour im Zweiten Weltkrieg. Aber gerade mit diesem Beispiel vor Augen muss man schauen, dass man entstehende Krisen richtig analysiert, richtige Voraussagen trifft und so einen Krieg aus Versehen vermeidet.
Kolbow: Wir sollten nicht vergessen, wie wir im Irak in einen Krieg aus Versehen hineingeraten sind – wegen der falschen Prognosen über angebliche Massenvernichtungswaffen
kolbow: Indem man rechtzeitig regionale Krisen-Analysen macht und über zivile Krisenvermeidung dafür sorgt, dass Krieg das letzte Mittel bleibt. Das bedarf einer Bündnis-Kooperation in der Nato und der Europäischen Union – aber insbesondere auch in den Vereinten Nationen, die ja das Gewaltmonopol haben und präventiv mit internationalen Militärverbänden der Völkergemeinschaft eingreifen könnten.
Kolbow: Gerade haben die Niederländer und Australier überlegt, ob sie nach dem katastrophalen Abschuss des malaysischen Flugzeuges zur Sicherung der Leichen ihrer Landsleute Militär in die Ukraine schicken. Sie haben das wieder verworfen. Im Moment sieht es so aus, als sei die internationale Gemeinschaft da ohnmächtig
Kolbow: Es wird Zeit, dass man wieder zu Kooperationen der Konfliktparteien kommt – und über kooperative Sicherheit die Lage entspannt, vielleicht wie in den 60er Jahren.
Kolbow: Dem nähern wir uns derzeit wieder an durch die Unübersichtlichkeit regionaler Entwicklungen – nicht nur in der Ukraine. Kein Mensch weiß ja beispielsweise, was in Zentralafrika, was in Mali passiert – wir haben keine Afrika-Strategie in den Bündnissen. Aber leider auch keine im Nahen und Mittleren Osten.
Kolbow: Wir stehen auch im Nahen Osten vor ähnlichen Fragen. Wenn die Krise in Israel beispielsweise den Iran zum Eingreifen oder Aktivieren seiner Nuklearpotenziale führt – wie sieht es dann mit dem Bündnisfall und unserer Staatsräson aus? Natürlich stehen wir für die Sicherheit und das Recht Israels ein, als Staat zu existieren. Da können wir ganz schnell in einen Bündnisfall geraten, der gar nicht in unserer Verfassung steht, den wir aber natürlich in Ankündigungen vor uns hertragen.
Kolbow: Ich würde sagen, die Temperaturen sind gleich hoch – ohne dramatisieren zu wollen. Das Problem ist: Wir haben keine gesicherten Antworten darauf, außer der, bei einer katastrophalen Entwicklung mit der ultima ratio, also militärisch zu antworten. Das wäre eine Katastrophe, dann haben wir den Krieg aus Versehen, in den wir ungewollt hineinlaufen. Wenn Sie das Werk des Historikers Christopher Clark („Die Schlafwandler: Wie Europa in den Ersten Weltkrieg“ zog) lesen, wissen Sie: Wir müssen vermeiden, dass Ähnliches noch einmal passiert. Wir müssen uns vor solchen automatischen Entwicklungen durch bewusstes Analysieren und Handeln schützen. Das heißt zuerst und vor allem: miteinander reden.
Kolbow: Die europäischen Außenminister tun, was sie können. Aber ob das ausreicht, kann ich derzeit nicht beurteilen. Da bin ich zu weit entfernt
Kolbow: Bei den Vereinten Nationen. Über die dort verhängten Vetos in Krisenfällen fließen natürlich auch immer regionalpolitische und ökonomische Interessen ein. Da muss man aufpassen, dass es friedlichere Entwicklungen aus egozentrischer Sicht von Großmächten wie Russland oder auch China nicht hemmt. Denken Sie nur an die koreanische Halbinsel. Dort ist ja auch möglicherweise ein Nuklearpotenzial im Entstehen.
Kolbow: Indem man sich an einen runden Tisch setzt und gemeinsam Lösungen findet – vielleicht etwa nach dem Vorbild der gemeinsamen Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa durch die KSZE. Das muss man übertragen auf die jeweiligen Regionen und jetzt reden, reden, reden – man darf niemanden aus der Kommunikation entlassen: Wer redet, schießt nicht gleich wie der, der nicht kommuniziert.
Walter Kolbow
Der Würzburger SPD-Politiker ist Sicherheits- und Verteidigungsexperte im (Un-)Ruhestand. Kolbow saß 29 Jahre für die SPD im Bundestag und war zuletzt in der Regierung von Gerhard Schröder Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Mit 70 Jahren ist er immer noch dauernd unterwegs, gerade in Stockholm. Kolbow ist Mitglied im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Zusammen mit dem früheren Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) sitzt in einer Kommission, die derzeit überprüft, ob die Regeln über Einsätze der Bundeswehr im Ausland noch zeitgemäß sind. Text: Schweidler/Foto: Schwarzott