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MOSKAU/KASAN
Sektenführer sperrte Kinder jahrelang unter die Erde
Der Sektenführer: Faisrachman Satarow auf einem Fernsehbild des russischen Programmes 1TV.ru. Der 83-Jährige schützte sein Haus mit einer hohen Mauer und ließ seine Anhänger unter der Erde hausen.
Foto: 1tv.ru | Der Sektenführer: Faisrachman Satarow auf einem Fernsehbild des russischen Programmes 1TV.ru. Der 83-Jährige schützte sein Haus mit einer hohen Mauer und ließ seine Anhänger unter der Erde hausen.
Von dpa-Korrespondent Benedikt von Imhoff
 |  aktualisiert: 11.12.2019 20:11 Uhr

Wie im Mittelalter leben 70 Sektenmitglieder abgeschottet nahe einer russischen Großstadt. Nur durch Zufall stoßen die Behörden auf das unterirdische Bunkersystem, in dem die Bewohner ohne Strom und Tageslicht hausen.

Über das weitläufige Bunkersystem nahe der russischen Stadt Kasan berichten die Behörden Erschreckendes. Dort hausten 27 Kinder, verdreckt und in Lumpen gehüllt. Viele hätten noch nie Tageslicht gesehen, schildern Augenzeugen. Die Kinder gehen weder zur Schule noch waren sie je bei einem Arzt.

In den Wohnzellen tief unter der Erde herrschen mittelalterliche Zustände, es gibt weder Heizung, Strom oder eine Kanalisation. Der Geruch muss ekelerregend sein. Auf Befehl eines selbst ernannten Propheten warten die Kinder und ihre Eltern auf den Weltuntergang.

Die Gruppe ist Sektenchef Faisrachman Satarow hörig, so heißt es, einem Prediger in der muslimisch geprägten Wolga-Stadt. Sein dreistöckiges Haus mit Minarett, Brunnen und Dieselstation hat der 83-Jährige mit einer hohen Mauer vor neugierigen Blicken abgeschirmt. Kaum eines der etwa 70 Sektenmitglieder darf das Gelände verlassen, nur seine engsten Vertrauten lässt „Allahs Prophet“ auf einem Markt arbeiten.

„Für die sogenannten Faisrachmanisten ist jeder ein Feind, der nicht gemäß dem Koran lebt“, erzählt ein Sprecher des Gouverneurs in der Teilrepublik Tatarstan der Zeitung „Kommersant“. „Die Gemeinschaft hat ihre eigene Hierarchie.“ Den Unterricht für die Kinder übernimmt der „Prophet“ persönlich, Mütter gebären auf dem Grundstück, selbst die Gräber sind versteckt.

Nachbarn und Gemeinschaft lassen die abgeschottete Gruppe in Ruhe. „Nur ab und an sind ein paar Männer herausgekommen, ansonsten haben wir nichts mitbekommen“, erzählt ein junger Mechaniker in einer nahen Werkstatt der Zeitung „Komsomolskaja Prawda“. Auch die örtlichen Religionsführer ignorieren Satarows Gemeinde.

Die russischen Behörden lassen Sekten oft gewähren, von denen es im größten Flächenstaat der Erde Dutzende, wenn nicht Hunderte gibt. Vor allem in entlegenen Regionen, in die weder Behörden noch die einflussreiche Kirche vordringen, haben selbst ernannte Prediger noch immer Konjunktur. Experten machen vor allem die Orientierungslosigkeit vieler Menschen nach dem Ende der Sowjetunion für den rasanten Anstieg von Sekten verantwortlich.

Die meisten Gruppen, die einem angeblich von Gott geweihten Führer folgen, sind harmlose Spinner. Doch oft führt die Ignoranz der Behörden an den Rand einer Katastrophe. Gut im Gedächtnis ist vielen Russen noch das „Drama von Pensa“. Nahe der mittelrussischen Großstadt verstecken sich Ende 2007 etwa 30 Mitglieder einer Weltuntergangssekte mit ihren Kindern in einem unterirdischen Tunnelsystem. Erst nach Monaten lassen sich die selbstmordgefährdeten Anhänger eines halluzinierenden Führers aus ihrem Erdloch locken.

Auf Satarows Jünger in Kasan stoßen die Behörden nur durch Zufall. Die öffentlichkeitsscheuen Bewohner geraten unter Terrorverdacht, nachdem Vize-Mufti Walliula Jakupow einem Anschlag zum Opfer fällt.

Bislang gilt Tatarstan in Russland als Symbol für das friedliche Miteinander von Muslimen und orthodoxen Christen. Doch in den vergangenen Wochen häufen sich Berichte über radikale Islamisten.

Es ist die Fahndung nach eben diesen Extremisten, die die Ermittler schließlich zu dem Sitz der Sekte führt. Aber statt Terroristen finden sie dort die Kinder in den Bunkeranlagen – die Minderjährigen kommen zunächst in Waisenhäuser. Nun drohen Satarows Anhänger mit der Apokalypse, falls sie ihre Kinder nicht zurückerhalten.

Völlig abgeschottet

Sekten schotten ihre Mitglieder oft ganz von der Außenwelt ab. In einigen Fällen führt die blinde Gefolgschaft bis in den gewaltsamen Tod.

Mai 2008: Nach fast 200 Tagen in einer Erdhöhle kommen die letzten Anhänger einer Weltuntergangssekte im russischen Gebiet Pensa ans Tageslicht. Im November 2007 hatten sich mehr als 30 Menschen, darunter auch Kinder, in ein unterirdisches Tunnelsystem zurückgezogen.

Oktober 1994: 53 Mitglieder des „Ordens der Sonnentempler“ werden tot aufgefunden – 48 in der Schweiz und fünf in Kanada. Die verkohlten Leichen weisen Einschüsse und Spuren von Injektionen auf. In den französischen Alpen werden 1995 die Leichen von 16 Mitgliedern der Sekte gefunden. Im Haus eines Sonnentemplers im kanadischen Quebec finden Feuerwehrleute 1997 fünf Tote. Vier der Leichen lagen kreuzförmig übereinander. Drei Jugendliche überleben. Als sie entdeckt werden, stehen sie unter Drogen.

April 1993: Mindestens 81 Menschen verbrennen im Anwesen der Davidianer-Sekte im texanischen Waco, darunter viele Kinder. Vermutlich legten Sektenmitglieder das Feuer selbst, als die Polizei das Gelände nach 51 Tagen Belagerung stürmte. Der selbst ernannte Prophet David Koresh hatte seine „Ranch Apokalypse“ zu einer Festung mit unterirdischem Tunnelsystem ausbauen lassen. Seine Gefolgsleute zwang er, nach seinen Regeln zu leben. Männer, Frauen und Kinder mussten täglich bis zu 15 Stunden beten. Koresh nahm sich selbst das Recht, mit Frauen anderer Sektenmitglieder schlafen zu dürfen.

November 1978: In der Siedlung Jonestown im Dschungel des südamerikanischen Landes Guyana begehen 923 Mitglieder der Volkstemplersekte aus den USA den wohl größten Massensuizid in der Geschichte. Zuvor hatte ihr Anführer Jim Jones einen US-Abgeordneten und vier seiner Begleiter erschießen lassen. Diese wollten feststellen, ob die Bewohner gegen ihren Willen festgehalten wurden. Die wenigen Überlebenden berichteten, dass unter den Opfern des Massakers auch Unfreiwillige gewesen seien. Text: dpa

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