Bei gutem Wetter kann man den Sehnsuchtsort vom Hafen von Calais aus sehen. Dann tauchen die Klippen von Dover am Horizont auf und das Land, das ein besseres Leben versprechen soll: Großbritannien. Keine 40 Kilometer misst hier der Abstand zwischen beiden Küsten, die der Ärmelkanal trennt. Für Tausende Flüchtlinge handelt es sich um die letzte Etappe einer entbehrungsreichen Reise. Aber eine, die schwer zu überwinden ist: Zäune, Absperrgitter, Kameras und Hunderte Ordnungskräfte stehen zwischen ihnen und dem Ziel.
Weil immer mehr Menschen in Calais illegal den Eurotunnel durchqueren wollen, spitzt sich die Lage in der nordfranzösischen Hafenstadt ständig zu. Dem Tunnelbetreiber Eurotunnel zufolge wurden seit Jahresbeginn 37 000 versuchte Überquerungen gezählt. Täglich sind es Hunderte Menschen, die auch vor lebensgefährlichen Manövern nicht zurückschrecken, auf wartende Lastwagen klettern oder auf fahrende Züge springen. Dienstagnacht starb ein junger Mann aus dem Sudan – er ist das neunte Todesopfer seit Juni.
Bessere wirtschaftliche Lage
Dass in Großbritannien Englisch geredet wird, kommt zahlreichen Flüchtlingen entgegen. Entweder weil es in ihrem Herkunftsland Amtssprache ist oder weil sie Englisch gelernt haben. Hinzukommt, dass in der Metropole London, aber auch in Ballungszentren wie Birmingham oder Manchester bereits große arabische und afrikanische Gemeinden existieren. Verwandte oder Freunde, die es schon über die Grenze geschafft haben, könnten bei der Ankunft helfen. Und beim Finden eines Jobs. Dass in Großbritannien die Arbeitslosenquote mit 5,4 Prozent nur gut halb so hoch ist wie in Frankreich, weckt Hoffnungen. Auf der Insel ist die wirtschaftliche Lage im Vergleich zu den südeuropäischen Ländern, wo die meisten Menschen in Booten ankommen, deutlich besser. Außerdem gibt es kein Meldegesetz, so dass es einfacher ist, schwarz zu arbeiten. Es herrscht, anders als in Deutschland oder Frankreich, keine Ausweispflicht.
2014 wurden im Königreich knapp 39 Prozent der Asylanträge genehmigt. Damit ist die Rate höher als in Frankreich, wo knapp 22 Prozent der Bewerber erfolgreich waren. Aber: In Großbritannien landen deutlich weniger Menschen. Deshalb waren es am Ende trotzdem nur 10 050 Migranten, die offiziell im Königreich bleiben durften, im Nachbarland gingen die Anträge von fast 15 000 Flüchtlingen durch.
Während Eurotunnel-Chef Jacques Gounon das „systematische Eindringen“ beklagt und von der britischen und der französischen Regierung eine Entschädigung in Höhe von 9,7 Millionen Euro für den erhöhten Schutzaufwand fordert, erwidert Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve, Eurotunnel müsse Verantwortung übernehmen. Ohne seinen Namen zu nennen, zitieren französische Medien einen Polizisten, der bedauert, dass „Politik aus der Not heraus“ gemacht werde: Seit Monaten bitte man dringend um Verstärkung.
Calais ächzt längst unter der Belastung, fordert Unterstützung des Staates in Höhe von 50 Millionen Euro. Zwar nutzen Flüchtlinge die Stadt seit vielen Jahren als Durchgangsstation auf dem Weg nach Großbritannien. Doch seit gut einem Jahr kommen immer mehr. Um die 4000 sollen es sein. „Die Stadt ist der Spiegel von Konflikten und Krisen, die bestimmte Regionen der Welt zerreißen“, sagt Cazeneuve. So stammen die meisten aus Eritrea, Afghanistan, Syrien und dem Sudan. In Calais hausen sie in Lagern abseits vom Zentrum. Manche Einwohner lehnen sie ab, während Hilfsorganisationen versuchen, sie mit dem Mindesten zu versorgen. Einen Antrag auf Asyl stellen die wenigsten – wer bis hierher kommt, will den Sprung nach Großbritannien schaffen.
Cameron will härter durchgreifen
Das will Premierminister David Cameron verhindern. Schon jetzt würden Gesetze verabschiedet, betont er, die das Bleiben auf seiner Seite des Ärmelkanals erschwerten. Die Politik rätselt, wie sie Stärke zeigen und den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln nehmen kann. Da ist zum einen der Zaun, der ausgebaut und verstärkt werden soll. Umgerechnet fast zehn Millionen Euro will die Regierung in Westminster zur Verfügung stellen, um die „Sicherheitsvorkehrungen“ zu intensivieren. Dazu gehören auch mehr Videokameras und Hunde.
Cameron kündigte an, härter durchgreifen zu wollen: „Wir werden mehr illegale Migranten aus unserem Land abschieben, damit die Leute wissen, dass es kein sicherer Hafen ist, wenn man mal da ist.“ Er nannte die Flüchtlinge einen „Menschenschwarm“, der sich in Großbritannien niederlassen wolle. Die Rhetorik Camerons wurde nicht nur vom britischen Flüchtlingsrat als „furchtbare, entmenschlichende Sprache eines Weltpolitikers“ kritisiert. Auch Harriet Harman, Interimschefin der Labour-Partei, befand: „Er sollte sich erinnern, dass er über Menschen spricht, nicht Insekten.“