„Die Kuh ist vom Eis.“ Es ist kurz nach 22 Uhr, als sich die Botschaft aus dem Konferenzraum des Konrad-Adenauer-Hauses wie ein Lauffeuer unter den wartenden Journalisten verbreitet. Von einem „Durchbruch“ ist in den Nachrichten aus dem Kreis der Teilnehmer der Rede, eine „Einigung“ stehe unmittelbar bevor, heißt es.
Wenig später bestätigt kein geringerer als Horst Seehofer das Ergebnis. CDU und CSU hätten sich „nach sehr intensiven Verhandlungen“ geeinigt. Er sei froh, „dass diese Einigung gelungen ist“. Wieder einmal habe es sich gezeigt, es lohne sich, für seine Überzeugung zu kämpfen.“ Und dann fällt der Satz, auf den alle warten: „Diese klare Übereinkunft, die in allen drei Punkten (…) meiner Vorstellung entspricht, erlaubt mir, dass ich das Amt des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat weiterführe.“
Sagt?s – und geht. Es ist der Rücktritt vom Rücktritt, den er ziemlich genau 24 Stunden zuvor am Ende einer turbulenten Sitzung des CSU-Landesvorstands und der CSU-Landesgruppe in München als Option ins Spiel gebracht und damit in Berlin ein politisches Erdbeben ausgelöst hat. Alles schien am Ende möglich – Ende der Regierung, Bruch der Koalition, Aufkündigung der Fraktionsgemeinschaft. Doch am Ende eines langen, turbulenten und chaotischen Tages löst sich mit einem Schlag alles in Wohlgefallen auf.
Auch CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht davon, dass man „nach hartem Ringen“ einen „wirklich guten Kompromiss“ gefunden habe. „Damit ist genau der Geist der Partnerschaft in der Europäischen Union gewahrt und gleichzeitig ein entscheidender Schritt getan, um Sekundärmigration zu ordnen und zu steuern.“ Dies sei genau das, „was mir wichtig war und ist“. Und die CSU-Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär, jubiliert auf Twitter: „Habemus Einigung!“
Möglich macht es ein Kompromiss, der im Grunde eine alte Unionsidee aufgreift: Im unmittelbaren Grenzgebiet zur österreichischen Grenze sollen sogenannte Transitzentren eingerichtet werden, aus denen Asylbewerber direkt in die zuständigen Länder zurückgewiesen werden. Dafür sollen mit den betroffenen Ländern bilaterale Abkommen geschlossen werden. In den Fällen, in denen sich Länder derartigen Abkommen verweigern (wie Italien, soll die Zurückweisung nach Österreich auf der Grundlage einer Vereinbarung mit der Republik Österreich stattfinden. Offen ist am Abend allerdings, ob die SPD diesem Kompromiss zustimmt – in der Vergangenheit hat sie die Einrichtung von Transitzentren stets abglehnt.
Die Einigung kommt praktisch aus heiterem Himmel. Den ganzen Tag über hat es nicht nach einer Lösung im unionsinternen Streit ausgesehen, sondern im Gegenteil nach einer weiteren Eskalation und Zuspitzung. Am Nachmittag sind Angela Merkel und Horst Seehofer fast eine Dreiviertelstunde bei Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, um wie bei einer Paartherapie in einem Gespräch unter sechs Augen Rat und Hilfe zu holen und mögliche Kompromisslinien auszuloten.
Doch der Versuch misslingt. Zu weit liegen unverändert die Positionen der CDU-Chefin und ihres CSU-Kollegen auseinander, zu verhärtet sind die Fronten. Es habe „eine Annäherung“ gegeben, aber „keinen Durchbruch“, heißt es hinterher. Für das Krisentreffen am Abend, an dem sich je acht Vertreter der CDU und der CSU gegenübersitzen, verheißt das nichts Gutes, zumal der CSU-Delegation mit Ministerpräsident Markus Söder und dem früheren CSU-Chef Edmund Stoiber zwei bekennende Merkel-Kritiker angehören.
Gleichzeitig gießt Horst Seehofer per Interview ordentlich Öl ins ohnehin stark lodernde Feuer nach: „Ich lasse mich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die nur wegen mir Kanzlerin ist“, sagt er der „Süddeutschen Zeitung“ mit Blick auf die guten Wahlergebnisse seiner CSU in Bayern.
In der gemeinsamen Bundestagsfraktion, die am Nachmittag zusammenkommt, ist die Stimmung eindeutig: „Die Abgeordneten von CDU und CSU wollen zusammenbleiben – mit Horst Seehofer als Innenminister“, sagt der Karlsruher Ingo Wellenreuther gegenüber dieser Redaktion. Bundeskanzlerin Angela Merkel nimmt an der Sitzung der Fraktion teil, dagegen fehlt CSU-Chef und Innenminister Horst Seehofer, der allerdings auch kein Bundestagsmandat hat. Gleichwohl stößt seine Abwesenheit gerade bei den CDU-Abgeordneten, die in der Sache hinter dem Innenminister stehen und sich ebenfalls für Zurückweisungen an der Grenze aussprechen, auf Kritik. „Warum wirbt er nicht für seine Position?“, fragt einer verzweifelt, „wir stehen doch hinter ihm“. Sollte es in der Fraktion eine Abstimmung über den Masterplan Seehofers geben, würde er mit übergroßer Mehrheit angenommen werden, heißt es offen.
Auch Fraktionschef Volker Kauder bekennt sich zu Beginn der gemeinsamen Fraktionssitzung klar zur Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU. „Wir bleiben beieinander“, verspricht er – und erntet dafür „donnernden Applaus“, wie Sitzungsteilnehmer berichten. Angela Merkel ihrerseits bekundet vor den Abgeordneten ihre Bereitschaft, eine Lösung im Streit mit der Schwesterpartei zu finden. Die Schicksalsgemeinschaft von CDU und CSU sei „jede Mühe wert“, dass man versuche, zu einer Verständigung zu kommen. „Der Wunsch, das zu lösen, ist groß“, es gelte, Nationales und Europäisches zusammenzubringen. Was wiederum ganz im Sinne der CSU ist. „Wir wollen Einigung und Einheit“, fasst der schwäbische Unions-Fraktionsvize Georg Nüßlein die Stimmung zusammen. Alles andere müssten Merkel und Seehofer regeln. „Wir haben als Fraktion etliche Kompromissangebote gemacht.“