Polizisten in Kampfmontur stürmen das Hauptquartier eines regierungskritischen Medienkonzerns und nehmen Journalisten fest: Was sich am Mittwoch vor dem Sitz der Koza-Ipek-Holding in der türkischen Metropole Istanbul abspielte, wird als „schwarzer Tag“ in die Geschichte des Landes eingehen, sagen Oppositionspolitiker. Wenige Tage vor der Parlamentsneuwahl am Sonntag nimmt der Druck auf die Medien in noch nie da gewesener Manier zu. Doch das ist möglicherweise erst der Anfang.
Das Drama um Koza Ipek spielte sich in aller Öffentlichkeit ab: Die betroffenen TV-Sender Kanaltürk und Bugün TV berichteten über ihre Internetseiten live über das Geschehen. Die Opposition verurteilte das Vorgehen der Behörden als putschähnlichen Schlag gegen die demokratische Ordnung. Der nationalistische Parlamentsabgeordnete Ahmet Tanrikulu sagte, die Ereignisse demonstrierten, wie weit sich die Türkei inzwischen von westlichen Standards der Demokratie entfernt habe.
Selahattin Demirtas, Vorsitzender der legalen Kurdenpartei HDP, bezeichnete den Sturm auf das Medienhaus als weiteres Beispiel dafür, dass sich die Regierungspartei AKP nicht um Gesetze, Verfassungsgebote oder internationale Rechtsnormen schere. „Dies ist leider die Türkei der AKP.“
Nicht nur Koza Ipek ist im Visier der Regierung. Auch andere Medienkonzerne, darunter der des Unternehmers Aydin Dogan, der unter anderem die „Hürriyet“ verlegt, haben den Zorn von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf sich gezogen. „Weitere Akte der Willkür können folgen“, sagte Bugün-TV-Chefredakteur Tarik Toros.
Unrealistisch ist diese Vorstellung nicht. Aydin Ünal, ein AKP-Abgeordneter und früherer Redenschreiber Erdogans, kündigte an, nach dem Wahltag am 1. November werde noch ganz anders mit kritischen Zeitungen und Fernsehsendern abgerechnet. Der Politologe Fethi Acikel kommentierte, die Türkei versinke im „politischen Wahnsinn“.
Die zur Bewegung des islamischen Predigers und Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen gehörende Koza-Ipek-Holding war bereits vor einigen Wochen von der Polizei durchsucht worden. Das Unternehmen soll jetzt unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt werden, weil es nach Ansicht der Justiz im Verdacht steht, Geldmittel für Gülen beschafft zu haben. Als sich die Mitarbeiter gegen die Entscheidung der Justiz wehrten, rückte die Polizei an.
Die türkische Staatsanwaltschaft will den in den USA lebenden Gülen wegen eines Umsturzversuches vor Gericht bringen. Ob die USA den 74-Jährigen an die Türkei ausliefern, ist allerdings fraglich.
Laut Koza-Ipek und der Opposition wurden bei dem staatlichen Zugriff auf den Medienkonzern am Mittwoch reihenweise gesetzliche Regeln gebrochen. Tatsächlich gaben sich die Behörden keine große Mühe, die Absicht einer politischen Neuausrichtung der Koza-Ipek-Medien zu verschleiern: Zu dem neu eingesetzten Führungsteam bei dem Konzern gehören Mitglieder der AKP sowie frühere Manager regierungsfreundlicher Medien. Die USA warnten die Türkei vor weiteren Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Offen ist, ob und wie der Skandal um die Polizeiaktion gegen Koza Ipek die Wahl am Sonntag beeinflussen wird.
Die AKP kämpft bei der Neuwahl um die Rückeroberung ihrer Parlamentsmehrheit, die sie bei der regulären Wahl im Juni eingebüßt hatte. Die meisten Umfragen, auch jene von regierungsnahen Instituten, sehen die Erdogan-Partei derzeit unterhalb der Schwelle von 276 Sitzen, ab der eine Alleinregierung möglich wäre.
Sollte die Wahl am Sonntag ähnlich ausgehen wie die im Juni, stellt sich die Frage, ob die AKP als stärkste politische Kraft ernsthafte Koalitionsverhandlungen führen wird oder eine erneute Wahl anstrebt. In Regierungskreisen heißt es, eine dritte Parlamentswahl sei wegen der Wahlmüdigkeit in der Bevölkerung nicht zu erwarten.