zurück
LIGIADES
Schuld und Schulden
reda
 |  aktualisiert: 11.12.2019 15:16 Uhr

Es ist eine Sache, in den Geschichtsbüchern oder Akten davon zu lesen, was im griechischen Bergdorf Ligiades am 3. Oktober 1943 geschah: das Massaker der deutschen Wehrmacht, dem mehr als 80 Frauen, Kinder und Greise zum Opfer fielen. Eine ganz andere Sache ist es, am Ort des Verbrechens zu stehen. Man merkt das Bundespräsident Joachim Gauck an, als er gemeinsam mit seinem griechischen Amtskollegen Karolos Papoulias vor die große marmorne Gedenktafel tritt, in die die Namen der Opfer eingemeißelt sind. „Das wird kein leichter Weg für mich“, hatte Gauck schon tags zuvor gesagt.

Eine Ehrenformation der griechischen Streitkräfte ist für den deutschen Gast aufmarschiert, an der Gedenkstelle im Dorf, dessen Häuser sich eng an die Flanke des Mitsikeli-Massivs schmiegen. Ein eisiger Wind weht von den schneebedeckten Bergen herab, treibt Wolkenfetzen über den Gebirgskamm. Es beginnt zu regnen.

„Ich will Gerechtigkeit, und das heißt Wiedergutmachung.“
Panagiotis Babouskas hat das Massaker von Ligiades überlebt

Mit versteinerter Miene und gesenktem Blick hört Gauck zu, wie eine Frau die Namen der Opfer verliest: „Eleni Lappa, 60 Jahre; Ioanna Lappa, 28 Jahre; Katerini Lappa, fünf Jahre.“ Jeder Name ein Schicksal. Das jüngste Opfer war zwei Monate, das älteste 100 Jahre alt. Als die quälend lange Lesung endlich beendet ist, rufen die versammelten Dorfbewohner: „Unsterblich!“

„Als Menschenkinder geboren, vom Feuer verschlungen“ – mit diesem Zitat eines Überlebenden beginnt der Bundespräsident seine Rede zum Gedenken an die Opfer, die damals als Rache für einen Partisanenüberfall von den Wehrmachtssoldaten erschossen wurden. „Sie alle waren arglos, sie alle waren wehrlos“, sagt Gauck.

Und dann sagt er jenen Satz, auf den viele warten: „Mit Scham und Schmerz bitte ich im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung.“ Dann spricht Gauck von Versöhnung, von der Gestaltung der gemeinsamen Zukunft. Er erwähnt die Pläne zur Gründung eines deutsch-griechischen Jugendwerkes.

Aber es ist die Vergangenheit, es sind die dunklen Schatten der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg, die Gauck auf dieser Reise immer wieder einholen. Schuld und Schulden, das ist das Spannungsfeld, in dem sich dieser Besuch bewegte und aus dem er sich befreien kann. Gauck spricht von „moralischer Schuld“. Aber sein Gastgeber, der griechische Präsident Karolos Papoulias, erinnert den Bundespräsidenten immer wieder daran, dass da noch andere Schulden offen sind. Nie zuvor hat die griechische Seite einen deutschen Politiker so direkt und nachdrücklich mit der Forderung nach Reparationen für die Besatzungsjahre konfrontiert, wie es Papoulias tat. Sie wird das deutsch-griechische Verhältnis in den nächsten Jahren begleiten und wohl auch belasten.

Gauck kann als Staatsoberhaupt zu diesen komplizierten rechtlichen Fragen wenig sagen, und er kann schon gar keine andere Ansicht äußern als die Bundesregierung, nach deren Lesart die Reparationsfrage fast 70 Jahre nach Kriegsende „ihre Berechtigung verloren hat“. Seine Unzuständigkeit unterstrich Gauck während des Besuchs mehrfach. Er will nach vorn blicken. „Wenn wir Erinnerungswege beschreiten, dann nicht, weil wir auf die Vergangenheit fixiert wären. Auch nicht, weil wir in ihrem Bann stehen“, sagt Gauck. Er schließt seine mit hörbarer Bewegung vorgetragene Rede mit der Mahnung: „Achtet und sucht die Wahrheit. Sie ist eine Schwester der Versöhnung.“

Der Bundespräsident ist schon wieder auf dem Rückweg zu seiner Limousine, da entrollen einige Demonstranten ein Spruchband. Sie stimmen einen Sprechchor an: „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit“. Auf ihrem Plakat steht: „Wir fordern Wiedergutmachung“.

Anlässlich des Besuchs des Bundespräsidenten war auch Panagiotis Babouskas aus Eleusis, wo er heute lebt, nach Ligiades gekommen. Er ist der einzige Überlebende des Massakers. Damals war er erst vier Monate alt. Man fand den noch lebenden Säugling zwei Tage nach dem Massenmord in den Armen seiner toten Mutter. Babouskas hat die Rede des Bundespräsidenten angehört. Er sagt: „Das sind nur Worte. Sie bedeuten nichts. Ich will Gerechtigkeit, und das heißt Wiedergutmachung.“

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Gedenktafeln
Geschichtsbücher
Griechische Staatspräsidenten
Joachim Gauck
Karolos Papoulias
Massaker
Schulden
Wehrmacht
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen