Wie nach einem Alptraum wachten die Menschen in Paris am Dienstagmorgen auf. In der Nacht war die Kathedrale Notre-Dame, eines der prachtvollsten Wahrzeichen von Paris, das zum Stadtbild gehört wie der Eiffelturm, ausgebrannt. Am Morgen danach waren zumindest die Flammen gelöscht. Wo bisher der 96 Meter hohe Spitzturm stolz in die Luft ragte, bleibt nur noch ein Gerüst-Gerippe. Doch die beiden Zwillingstürme haben standgehalten, die Grundsubstanz scheint ebenfalls gerettet.
„Fluctuat nec mergitur“ – „Sie wankt, aber sie fällt nicht“: Das Stadtmotto von Paris in lateinischer Sprache, das im 16. Jahrhundert auf Geldmarken der Stadt auftauchte, ab 1853 offiziell als Ausdruck für ihre bewegte Geschichte verwendet wurde und nach den Terroranschlägen im November 2015 ihre Widerstandsfähigkeit betonte, scheint auch auf die Kathedrale zuzutreffen. Es prangt auf den Helmen der Feuerwehrmänner, von denen mehr als 400 die ganze Nacht um die Rettung des Sakralbaus gekämpft hatten. Einer von ihnen sowie zwei Polizisten wurden dabei verletzt.
Eine schwierige Löschaktion - letztlich aber erfolgreich
„Notre Drame“, „Unser Drama“, titelte eine Zeitung am Dienstag. „Notre-Dame des Larmes“, „Notre-Dame der Tränen“ eine andere. „Le Monde“ zitierte den Feuerwehrmann Yaya aus dem Vorort Clamart, der sagte, die Löschaktion sei schwierig, aber erfolgreich gewesen. „Wenn ich kann, gehe ich gerne in Sehenswürdigkeiten in Paris, aber ich war nie in Notre-Dame. Bei solchen Monumenten denkt man, sie werden ohnehin immer da sein.“ Aber sobald die Kathedrale wieder aufgebaut sei, werde er sie besichtigen. Einen Zweifel ließ er daran nicht.
Um die Brandursache festzustellen, leitete die Staatsanwaltschaft unmittelbar eine Untersuchung wegen unbeabsichtigter Zerstörung durch Feuer ein. Sie geht von einem durch Renovierungsarbeiten ausgelösten Unfall aus. „Nichts weist auf einen mutwilligen Akt hin“, sagte Staatsanwalt Rémy Heitz am Dienstag. Im Juli 2018 hatte eine umfangreiche Restauration des Spitzturms und des Dachs begonnen, deren aktuelle Bauphase rund 150 Millionen Euro kosten sollte. Das 500 Tonnen schwere Gerüst war fast fertiggestellt. In den französischen Medien wurde spekuliert, dass bei Schweißarbeiten an der Metallstruktur ein Schwelbrand entstanden sein könnte. Kurz vor sieben Uhr abends, als die rund 40 Arbeiter von fünf verschiedenen Baufirmen bereits seit fast zwei Stunden die Baustelle verlassen hatten, trafen die Feuerwehrleute nach einem Alarm ein.
Viele historische Schätze konnten gerettet werden
Da sie das Bauwerk zugleich vor den Flammen retten und dennoch so weit wie möglich vor den Wassermassen schützen mussten, gingen sie im Inneren wie im Äußeren mit großer Vorsicht vor und verwendeten sogar Roboter. Auf den Einsatz von Löschflugzeugen, den US-Präsident Donald Trump in einer Nachricht auf Twitter vorgeschlagen hatte, wurde laut der französischen Behörde für zivile Sicherheit verzichtet, denn das könne „bei dieser Art Bauwerk das Zusammenbrechen der gesamten Struktur nach sich ziehen“.
Wie Bürgermeisterin Anne Hidalgo in der Nacht verkündete, konnten viele historische Schätze gerettet werden, die zu den bedeutendsten Reliquien der katholischen Kirche gehören – wie die Dornenkrone, die Jesus Christus bei seiner Kreuzigung getragen haben soll, und die Tunika von König Ludwig XIV. Unsicherheit herrscht noch, ob die weltberühmten Rosettenfenster und die Orgeln beschädigt wurden, die erst 2012 zum 850-jährigen Jubiläum restauriert worden waren.
Das genaue Ausmaß der Schäden wird sich erst noch zeigen
Als sicher gilt, dass das riesige Balkenwerk aus Eiche mit einer Länge von 110 Metern, einer Breite von 13 Metern und einer Höhe von zehn Metern, dessen Elemente teils aus dem achten Jahrhundert stammten, völlig zerstört ist. Das gesamte Ausmaß der Schäden kann wohl erst in den nächsten Tagen und Wochen ermittelt werden. „Die Hauptstruktur ist gerettet, aber die Lage bleibt unstabil“, sagte der französische Kulturminister Franck Riester am Dienstag. „Zwei Drittel des Dachs sind verbrannt, der Spitzturm stürzte ins Innere, was ein Loch im Kreuzgewölbe gerissen hat.“ Die Vierung, wo das Haupt- und das Querschiff der Kirche zusammentreffen, sei teilweise zusammengebrochen, ebenso wie das nördliche Querschiff. Die Architekten vor Ort seien sehr besorgt, da das angekohlte Holz auf der Wölbung mit Wasser vollgesogen und sehr schwer sei, so Riester: „All das ist sehr fragil und sobald ein Teil zusammenbricht, droht dies den gesamten Bau zu stören.“
Spendenaktionen liefen noch in der Brandnacht an
Selbst wenn es so weit nicht kommt – der Wiederaufbau des mehr als 850 Jahre alten Gebäudes wird Experten zufolge Jahrzehnte dauern und viele Millionen Euro verschlingen. Noch in der Brandnacht wurden mehrere Spendenaktionen lanciert, bei denen Privatpersonen Geld geben konnten. Innerhalb weniger Stunden kamen bereits zigtausende Euro zusammen. Die Präsidentin der Hauptstadtregion Île-de-France, Valérie Pécresse, kündigte zehn Millionen Euro für den Wiederaufbau an, Bürgermeisterin Hidalgo 50 Millionen für die Stadt, der Milliardär François-Henri Pinault, Chef des Luxus-Modekonzerns Kering, versprach 100 Millionen Euro. Daraufhin verkündete sein ewiger Rivale Bernard Arnault, er wiederum Chef des Luxuskonzerns LVMH (Louis Vuitton Moët Hennessy), die Gabe von 200 Millionen Euro. Auch der Erdölkonzern Total will 100 Millionen Euro geben.
Die zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert errichtete Kathedrale, die Victor Hugo in seinem Jahrhundertroman „Der Glöckner von Notre-Dame“ verewigt hat, gehört zum nationalen Kulturgut Frankreichs: Nach dem Ende des 100-jährigen Krieges 1430 wurde hier der neunjährige Henri VI., König von England, zum französischen König gesalbt. Der Protestant Henri de Navarre vermählte sich 1572 dort mit der katholischen Marie de Valois, und Napoleon setzte sich 1804 in dem Sakralbau in Anwesenheit von Papst Pius VII. selbst die Kaiserkrone aufs Haupt. Nach der Befreiung von Paris 1944 von den deutschen Besatzern ließen die Orgeln von Notre-Dame tagsüber unter anderem die Marseillaise erklingen, und nach dem Tod der Präsidenten Charles de Gaulle, Georges Pompidou und François Mitterrand fanden hier nationale Trauerfeiern statt,
„Das ist ein Teil des französischen Schicksals“
In Anspielung an diese bewegte Geschichte der Kathedrale, die mit jener der Stadt und des ganzen Landes verknüpft ist und die jährlich 13 Millionen Besucher zählt, versprach Präsident Emmanuel Macron noch in der Nacht, sie wieder aufzubauen. Er lud „Talente aus aller Welt“ ein, sich daran zu beteiligen: „Das ist zweifellos ein Teil des französischen Schicksals und ein Projekt, das wir in den nächsten Jahren haben werden.“
Eigentlich hätte Macron am Montagabend eine Fernsehansprache halten sollen zu den Bürgerdebatten im Land und zum Protest der Gelbwesten“, sie wurde verschoben. Die Parteien setzten den Europawahlkampf aus. Selbst scharfe Gegner Macrons wie Jean-Luc Mélenchon, Chef der linksradikalen Partei Unbeugsames Frankreich, stellte die politischen Kämpfe zurück. „Notre-Dame ist seit mehr als 1000 Jahren das Metronom der Franzosen und ein Mitglied unserer Familie“, erklärte Mélenchon. „Wir sind in Trauer.“
In der Nacht des Grauens zusammengerückt
Für den Präsidenten bedeutet das Unglück eine Gelegenheit, die Franzosen zu Einheit und Zusammenhalt aufzurufen. Beim Amtsantritt des damals 39-Jährigen vor zwei Jahren hatte der republikanische Senatspräsident Gérard Larcher, ein Urgestein der französischen Politik, gesagt, angesichts von Macrons Alter klinge das zwar eigenartig – „aber Sie sind jetzt der Vater der Nation“. Es ist eine Rolle, die Macron selbst stets einnehmen wollte, die ihm viele Franzosen aber nicht mehr zuerkennen. Die Proteste der „Gelbwesten“ brachten nicht nur die Brüche im Land zum Vorschein, die zwischen Metropolen und ländlichen Regionen verlaufen, zwischen gut ausgebildeten Globalisierungsgewinnern und schlechter gestellten Menschen, die sich abgehängt fühlen. Sondern sie entwickelten sich auch zu einer umfangreichen Widerstandsbewegung gegen den Präsidenten, den seine Gegner als Vertreter einer abgehobenen und verhassten Elite ablehnen. Die Nacht des Grauens in Paris ließ die Franzosen zusammenrücken – zumindest vorübergehend angesichts eines real gewordenen Alptraums.