Laut hallen die Rufe über die stummen, grünen Hügel hinweg. „Schottland für Europa“, tönt die Menge. Rund tausend Menschen sind an diesem Abend hierhergekommen, auf die große Wiese nahe des Regionalparlaments in Edinburgh. Studenten, junge Familien und Rentner, die sich zum Protest versammelt haben, manche eingehüllt in die europäische Flagge, viele von ihnen schwenken die schottische Flagge. Eine Frau reckt ein Plakat in die Höhe: „Schottland in der EU halten“.
Die Schotten sind trotzig. Seit die Mehrheit der Briten beschlossen hat, die EU zu verlassen, lehnt sich der nördliche Landesteil auf. Das ist im Grunde nichts Neues. Denn die stolzen Schotten fühlen sich seit jeher bevormundet von London, fremdregiert und ausgenutzt. Doch nun ist die Lage anders. Denn beim Referendum haben 62 Prozent für einen Verbleib in der EU gestimmt. Jeder der 32 Wahlbezirke sprach sich für „Remain“ aus. Nun haben die Schotten das Gefühl, dass sie übergangen werden. „Gegen ihren Willen“ würden sie jetzt aus der Gemeinschaft gezwungen, werden einige Politiker nicht müde zu betonen. Es ist die Stunde der Schottischen Nationalpartei (SNP). Es ist vor allem die Stunde von Nicola Sturgeon, der schottischen Regierungschefin.
Während Großbritannien nach dem Brexit-Votum in Schockstarre verfiel und die Konservativen und die Labour-Partei in Machtkämpfen versanken, präsentiert sich die SNP mit Strategie und selbstbewusster Stimme. Wenige Stunden, nachdem das Ergebnis des Referendums feststand, brachte Sturgeon eine Trennung von Großbritannien ins Gespräch. Damit ist die SNP die einzige Partei, die einen Plan B hatte, nachdem Plan A gescheitert war. Sturgeon hatte im Wahlkampf für den Verbleib des Königreichs in der EU gekämpft. Sicherheitshalber hatte sich die Partei aber im Mai in ihr Manifest geschrieben, dass ein zweites Unabhängigkeitsreferendum wieder zur Option werde, sollte es zum Brexit kommen.
Schottland hat ein Problem: Es ist ein eigenes Land, aber kein Staat. Es hat ein Regionalparlament in Edinburgh, eigene Flagge und Regierung, aber ist Teil Großbritanniens. Das soll sich ändern, wenn es nach der Mehrheit der Schotten geht. Knapp 54 Prozent wollen jüngsten Umfragen zufolge raus der Union mit dem Vereinigten Königreich, das derzeit alles andere als vereint dasteht. Dabei liegt die erste Volksabstimmung über eine Abspaltung noch keine zwei Jahre zurück. Damals waren die Befürworter knapp gescheitert.
Doch „das Königreich von damals ist nicht jenes von heute“, sagt Alex Salmond, der ehemalige Ministerpräsident Schottlands, der zwar nach dem verlorenen Referendum sein Amt, aber nicht seinen Traum aufgegeben hat.
Darum hat Salmond zum Termin mit der Auslandspresse gebeten und erscheint gut gelaunt. Er sagt, es gehe darum, einen Weg zu finden, wie sich die Position Schottlands innerhalb des europäischen Rahmenwerks schützen lasse. Im Grunde wolle Schottland Großbritanniens Mitgliedschaft in der EU nahtlos übernehmen. Ein zweites Referendum, prophezeit er, müsste deshalb innerhalb der nächsten zweieinhalb Jahre stattfinden - bevor der Brexit Realität wird.
Doch mit welchen Folgen? Bedeutet das, Großbritannien bricht letztlich auseinander? Denn nicht nur Schottland wehrt sich gegen den Ausgang des Referendums. Auch einige Nordiren sehen ihren Moment gekommen, um erneut die Vereinigung mit der Republik Irland zu fordern.
Für den stellvertretenden Ersten Minister im Regionalparlament, Martin McGuiness von der irisch-republikanischen Partei Sinn Fein, ist es inakzeptabel, dass die Nordiren zwar mehrheitlich für den Verbleib gestimmt haben, sich aber dem Votum ihrer walisischen und englischen Landsleute beugen müssen. Hinzu kommt ein praktisches Problem: Insbesondere entlang der einzigen Landgrenze des Königreichs fürchten sich die Menschen vor politischer Instabilität und negativen wirtschaftlichen Auswirkungen – vor allem aber vor der Einführung neuer Grenzkontrollen. Sie sorgen sich, dass der mühsam erreichte Frieden nach dem jahrzehntelangen blutigen Nordirland-Konflikt nun wegen des Brexits gefährdet sein könnte. Während sich in Nordirland Unmut breitmacht, ist Schottland schon weiter. Sturgeons Botschaft nach Brüssel als auch nach London ist klar: geschlossene Entschlossenheit.
Und das demonstrieren die Schotten - mit europäischen und schottischen Flaggen, im Schottenrock, vor allem aber mit Dudelsack-Musik, einem der markantesten Symbole Schottlands. In Edinburgh spielt an diesem Abend einer Beethovens Ode an die Freude auf dem Dudelsack. Die „Flower of Scotland“ darf nicht fehlen, die potenzielle Nationalhymne eines eigenständigen Staates. Diese Zeilen, die hier jeder mitsingen kann, klingen wie ein patriotischer Aufruf an die SNP: „Wir können uns auch heute noch erheben, um wieder die Nation zu werden, die den stolzen Edward nach Hause geschickt hat, um sich die Sache noch mal zu überlegen.“
Zeilen, die viel verraten über das Verhältnis zwischen England und Schottland: Der erwähnte Edward war ein englischer König im 13. Jahrhundert, und bei der Sache, die er sich noch mal überlegen soll, geht es um die Eroberung Schottlands. Irgendwo hier beginnt der Mythos eines unabhängigen Schottlands. Ein Mythos, der schon zum Stoff für Hollywood taugte: Der Aufstand um den Freiheitskämpfer William Wallace und den späteren ersten König von Schottland, Robert the Bruce, wurde durch „Braveheart“ berühmt.
Heute heißt die moderne Freiheitskämpferin Nicola Sturgeon. Doch zu welchem Preis? Königin Elizabeth II. darf sich zwar nicht zur Tagespolitik äußern. Und doch klingt ihre Warnung eindringlich, als sie am Wochenende im schottischen Parlament spricht: „Wir alle leben in einer zunehmend komplexen und fordernden Welt.“ Vor diesem Hintergrund sei es wichtig, „ruhig und gefasst“ zu bleiben.
Deutlicher werden da die Experten des „Centre for Policy Studies“, einer konservativen Denkfabrik. Ein eigenständiges Schottland könnte sich in ein „Griechenland, nur ohne die Sonne“ verwandeln, da die heimische Wirtschaft deutlich abhängiger vom Königreich sei als von der EU. Etliche Fragen sind ungeklärt: Wie will man die Eigenständigkeit finanzieren – jetzt, wo der Ölpreis gesunken ist und die Industrie den endgültigen Kollaps fürchtet? Würde der nördliche Landesteil den Euro übernehmen? Alex Salmond winkt ab und verweist auf starke Exportgüter wie Whisky oder Gas. „Wir haben eine boomende Industrie und ein hohes internationales Ansehen. Wir werden im Wohlstand leben.
“ Dabei schwingt auch die Hoffnung mit, Unternehmen könnten nach einem Brexit nach Glasgow oder Edinburgh ziehen, wo sie nach wie vor die Vorteile des europäischen Binnenmarkts nutzen können. Vieles klingt in der Theorie simpel.
Während Salmond noch seine Vision eines eigenständigen Staats ausbreitet, landet Sturgeon in Brüssel. Professionell und staatsmännisch tritt sie dort auf, wo Noch-Premierminister David Cameron kurz zuvor sein Scheitern eingestehen musste. Sturgeon trifft sich mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Parlamentspräsident Martin Schulz. Sie will vorfühlen und für Schottland werben. Die Presse daheim feiert sie für ihre klaren Worte und hofft auf „einen Plan, um aus diesem Brexit-Albtraum aufzuwachen“.
Doch Sturgeons Hoffnungen werden schnell gedämpft. Schottland habe sich das Recht erworben, in Brüssel gehört zu werden – in interne britische Angelegenheiten werde man sich aber nicht einmischen, sagt Juncker. Vor allem ein EU-Mitglied wehrt sich vehement gegen schottische Unabhängigkeitsträume: Spanien. Dort kämpft Katalonien, die autonome Region im Osten des Landes, ebenfalls um seine Autonomie.
Einen Präzedenzfall kann Premierminister Mariano Rajoy deswegen nicht gebrauchen. Er sagt: „Wenn Großbritannien geht, muss auch Schottland gehen.“ Und: Es sei „ausgeschlossen, dass Spanien einem schottischen EU-Beitritt irgendwann zustimmen könnte“.
Die Worte klangen unmissverständlich. Doch in Schottland hört man sie nur ungern. Für Alex Salmond stellt sich die Sache sowieso ganz anders dar. Spanien wolle die EU ja nicht verlassen, also sei Großbritannien auch kein Präzedenzfall. Er schwärmt von „einem bedeutenden Stimmungsumschwung“ unter den europäischen Regierungsvertretern und verweist auf positive Reaktionen aus Polen und Belgien. Trotzdem: Alle verbliebenen 27 Mitgliedstaaten müssten dem Beitritt eines unabhängigen Schottlands zustimmen. Wie will die SNP das erreichen? „Schottland hat Solidarität mit Europa gezeigt, nun bittet es um Solidarität von den Menschen in Europa“, sagt Salmond. Es ist ein Satz, der in den nächsten Monaten noch häufiger auf dem Kontinent zu hören sein wird. MIT MATERIAL VON DPA