Der Zug rast plötzlich ins Bild, legt sich in die enge Kurve, und nur zwei, drei Sekunden später springen Lok und Waggons aus den Schienen. Sie zerschellen wie billiges Spielzeug an einer Betonmauer. Die Zugkatastrophe im Nordwesten Spaniens, eine der schlimmsten in der Geschichte des Landes, wurde von einer Überwachungskamera an der Strecke festgehalten.
Kurz nach der Entgleisung bot sich den herbeigeeilten Menschen ein Bild des Schreckens: „Wir haben da kaputte Menschen gesehen, wie sie Kinder aus den Zugtrümmern herausgeholt haben“, sagte ein junger Mann spanischen Journalisten.
Der Schnellzug von Madrid nach Ferrol war vier Kilometer vor der Einfahrt in den Bahnhof der Pilgerstadt Santiago de Compostela aus den Schienen gesprungen und in mehrere Teile zerbrochen. Mindestens 80 Menschen wurden dabei getötet, etwa 180 verletzt, mehr als 30 von ihnen schwer.
Neben dem Bahndamm waren nach dem Unglück zahlreiche in Decken gehüllte Leichen zu sehen, blutüberströmte Verletzte wurden aus zertrümmerten Waggons gezogen: Kein Wagen des Unglückszuges stand mehr auf den Gleisen. Die vorderen Waggons waren auf eine Böschung neben den Schienen gekippt, ein Wagen flog über eine Barriere neben dem Bahndamm hinweg und landete auf einer Straße in der Nähe mehrerer Wohnhäuser. Die hinteren Waggons prallten gegen eine Abgrenzungsmauer und verkeilten sich ineinander.
Anwohner waren die ersten Helfer, die zur Stelle waren. „Wir haben Scheiben der Waggons eingeschlagen und Tote und Verletzte ins Freie gezogen“, erzählte einer von ihnen der Zeitung „La Voz de Galicia“. Ein 76-Jähriger sagte: „Als wir zur Unglücksstelle kamen, sahen wir Rauch und einen Haufen von Trümmern. Da noch keine Helfer zur Stelle waren, haben wir Bretter als Tragen benutzt, um die Verletzten abzutransportieren. Einige von uns brachten Decken und Wasser.“
Das Unglück löste eine Welle der Solidarität aus. Als die Behörden zu Blutspenden aufriefen, meldeten sich so viele Freiwillige, dass die Krankenhäuser den Andrang kaum bewältigen konnten.
„Die ganze Stadt steht wie unter Schock“, sagte der Koordinator des Projekts „Deutschsprachige Pilgerseelsorge in Santiago“, Wolfgang Schneller. Es sei zu befürchten, dass auch Deutsche vom Unglück betroffen seien. Offizielle Stellen bestätigten das nicht – die Identität vieler Opfer blieb vorerst unbekannt.
Einige Anwohner wollten kurz vor dem Entgleisen des Zuges einen lauten Knall oder eine Explosion gehört haben. Das spanische Innenministerium leitete in aller Eile eine Untersuchung ein und stellte noch in der Nacht fest: Ein Terroranschlag oder Sabotageakt konnten als Unglücksursache ausgeschlossen werden.
Die beiden Lokführer überstanden das Unglück nahezu unverletzt. Wie aus Ermittlerkreisen verlautete, hatte einer von ihnen in einem Gespräch mit seinen Vorgesetzten immer wieder in sein Handy gerufen: „Wir sind entgleist! Was können wir tun?“ Der Lokführer gab nach diesen Informationen auch zu, an der Unglücksstelle mit 190 Stundenkilometern in eine Kurve gefahren zu sein, obwohl dort nur Tempo 80 erlaubt war. Auf Anordnung des Ermittlungsrichters soll er als Beschuldigter aussagen. Der Schnellzug hatte fünf Minuten Verspätung. Die Bahngesellschaft Renfe wollte die Spekulation, dass die Lokführer möglicherweise Zeit aufholen wollten, nicht gelten lassen. „Verspätungen in einer Größenordnung von fünf Minuten sind auf diesen Strecken nicht ungewöhnlich“, hieß es aus Kreisen des Unternehmens.
Die Katastrophe geschah auf einem Neubau-Abschnitt des Hochgeschwindigkeitsnetzes der spanischen Bahn. Dort durfte der Zug auf einer langen geraden Strecke mehr als 200 km/h fahren. Am Stadtrand von Santiago hätte er abbremsen müssen, weil die Bahnstrecke eine enge Kurve macht.
An der Unglücksstelle hatten die Konstrukteure für die Hochgeschwindigkeitszüge keine neue Trasse gebaut, sondern die Gleise neben den Schienen der konventionellen Bahnlinie verlegt. Experten hatten schon vor Jahren bemängelt, dass die Kurve problematisch sei.
Die Bilder vom Zugunglück in Spanien rufen Erinnerungen an den bisher schwersten Bahnunfall in der Bundesrepublik Deutschland hervor. Am 3. Juni 1998 entgleiste der Intercity-Express „Wilhelm Conrad Röntgen“ bei Eschede in Niedersachsen bei Tempo 200 und prallte gegen eine Betonbrücke. 101 Menschen starben, 88 Reisende wurden schwer verletzt. Unglücksursache war damals ein gebrochener Radreifen. Die Bahn zahlte den Hinterbliebenen für jeden Toten 15 000 Euro Schmerzensgeld.
Tempo-Kontrolle
Bei dem Bahnunglück in Spanien ist der Zug vermutlich viel zu schnell unterwegs gewesen. Bei der Deutschen Bahn sind alle Strecken mit einer sogenannten Zugbeeinflussung ausgerüstet, um solche Unfälle zu verhindern. Ob die Systeme mit denen in Spanien zu vergleichen sind, konnte ein Sprecher der Deutschen Bahn in Frankfurt nicht sagen.
Die punktförmige Zugbeeinflussung (PZB) greift auf Strecken, wo Geschwindigkeiten bis 160 Stundenkilometern erlaubt sind. Meist in einem Abstand von einem Kilometer vor dem Hauptsignal weist ein Vorsignal den Lokführer darauf hin, dass der Zug beispielsweise halten muss. Reagiert der Lokführer nicht oder ungenügend, wird über Gleismagnete automatisch eine Zwangsbremsung ausgelöst.
Die Linienzugbeeinflussung (LZB) ist eine dauerhafte Kontrolle der Zuggeschwindigkeit. Sie ist auf Strecken mit einer erlaubten Geschwindigkeit von mehr als 160 Kilometern pro Stunde Vorschrift. So wird etwa auf der Schnellfahrstrecke zwischen Frankfurt und Köln automatisch das Tempo reguliert. Nach Angaben des Sprechers können Lokführer die LZB aber auch ausschalten, wenn beispielsweise eine Störung vorliegt. Damit unterliegen sie der PZB-Überwachung und den daraus resultierenden geringeren Geschwindigkeiten.
Das European Train Control System ist ein mit der Linienzugbeeinflussung vergleichbares System, mit dem Züge europaweit durchfahren können sollen. Im Moment erschweren landesspezifische Zugsicherungs- und -steuerungssysteme den grenzüberschreitenden Fahrzeugeinsatz in Europa. Das System soll zum Beispiel auf den Strecken Rotterdam-Emmerich-Basel-Genua und Nürnberg-Erfurt-Halle-Leipzig eingeführt werden.
Die Sicherheitsfahrschaltung ergänzt die Zugbeeinflussungssysteme und überprüft, ob der Lokführer während der Fahrt handlungsfähig ist. Dazu muss der Lokführer alle 30 Sekunden eine Taste drücken oder ein Pedal betätigen. Auch wenn eines der Betätigungselemente länger als 30 Sekunden gedrückt und ein optisches oder akustisches Warnsignal nicht beachtet wird, wird der Zug gebremst. Nach Konzernangaben gibt es in allen Zügen der Deutschen Bahn diese Schaltung. TEXT: dpa