Viel weiter weg geht fast gar nicht mehr. 8830 Kilometer Luftlinie sind es zwischen Berlin und Johannesburg. Und doch kann Annette Schavan, die in dieser sitzungsfreien Woche des Bundestags auf Dienstreise in Südafrika ist, den Ereignissen in der Heimat nicht entfliehen. Sie sind präsenter, als ihr selber lieb sein kann.
Am späten Dienstagabend erreicht sie die Nachricht aus der Heimat, dass ihr die Universität Düsseldorf, an der sie vor bald 33 Jahren ihr Studium der Erziehungswissenschaften, der Philosophie und der Theologie mit einer Dissertation zum Thema „Person und Gewissen – Studien zu Voraussetzungen, Notwendigkeit und Erfordernissen heutiger Gewissensbildung“ abgeschlossen hat, den Doktortitel entzogen hat. Schavan habe fremdes Gedankengut, so das eindeutige Urteil des Promotionsausschusses, „systematisch und vorsätzlich über ihre Dissertation verteilt“, ohne dieses als Zitat zu kennzeichnen.
- Chronologie: Das Plagiatsverfahren gegen Schavan
Am Morgen danach ringt sich die 57-jährige gebürtige Rheinländerin in Johannesburg zu einer äußerst dürren Erklärung durch. Zwei Sätze, mehr nicht. „Die Entscheidung der Universität Düsseldorf werde ich nicht akzeptieren und dagegen Klage einreichen. Mit Blick auf die juristische Auseinandersetzung bitte ich um Ihr Verständnis, dass ich heute keine weitere Stellungnahme abgeben werde.“ Sagt's und verschwindet. Für sie, die so stolz darauf ist, als Honorarprofessorin für katholische Theologie an der Freien Universität Berlin lehren zu dürfen, ist die Sache damit beendet. Doch in Berlin hat längst die Debatte an Fahrt gewonnen, wie es mit Schavan weitergeht und ob sie als Bundesministerin für Bildung und Forschung überhaupt noch zu halten ist.
Schon in der Nacht, unmittelbar nach der Entscheidung der Uni Düsseldorf, haben SPD, Grüne und Linke ihren Rücktritt gefordert, am Mittwoch schwellen die Rufe zu einem lauten Chor an. Der Tenor ist eindeutig. Dass ausgerechnet die Wissenschaftsministerin ihren Doktortitel verliert, weil sie wissenschaftliche Standards nicht eingehalten hat, mache sie unglaubwürdig und schade ihrem Amt. „Es geht nach der Aberkennung des Doktorgrades nicht mehr um die Verdienste von Annette Schavan als Politikerin. Sie muss zurücktreten, weil sie kein Vorbild mehr sein kann und der Wissenschaft schadet“, sagt SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Ähnlich argumentiert Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin. Er habe zwar Verständnis für die „menschliche Härte“ dieser Entscheidung, sagt er, aber eine Wissenschaftsministerin, die wegen systematischer und vorsätzlicher Täuschung überführt werde, sei nicht mehr tragbar.
In der Union ist der Schock groß. Die klare Entscheidung der Düsseldorfer Alma Mater trifft die Christdemokraten. Innerhalb von zwei Jahren verlieren gleich zwei Bundesminister in aufsehenerregenden Verfahren ihren akademischen Grad, 2011 der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, nun Annette Schavan. Ein schwerer Schlag für die bürgerliche Partei, die konservative Tugenden wie Ehrlichkeit, Fleiß und Wahrhaftigkeit pflegt.
Am Mittag lässt Bundeskanzlerin Angela Merkel über Regierungssprecher Steffen Seibert ausrichten, dass sie „volles Vertrauen“ in ihre Ministerin habe und ihre Leistungen „außerordentlich“ schätze. Ein Hintertürchen bleibt aber offen. Nach der Rückkehr Schavans aus Südafrika werde Gelegenheit sein „in Ruhe miteinander zu reden“, so Seibert. „Sicher wird die Ministerin dann auch erneut und ausführlicher Stellung nehmen, als das aus dem Ausland möglich und angebracht ist.“ Auch die FDP gibt sich loyal. Man respektierte Schavans Entscheidung, den Rechtsweg zu beschreiten, sagt FDP-Generalsekretär Patrick Döring.
In der CDU ist derweil die Sorge groß, dass Annette Schavan sich und ihrer Partei keinen Gefallen tut, wenn sie sich an das Amt klammert und uneinsichtig alle Vorwürfe zurückweist. Je länger sich die Debatte hinziehe, orakelt ein führender Christdemokrat gegenüber dieser Zeitung, desto mehr werde Schavan zu einer Belastung für die Partei. Und das ausgerechnet in einem Wahljahr. Für die Opposition sei dies „ein gefundenes Fressen“.
Und dann ist da auch noch die CSU, die mit Annette Schavan noch eine Rechnung offen hat. Die Christsozialen haben nicht vergessen, dass Schavan im Fall Guttenberg höhnte, sie schäme sich nicht nur heimlich, und die Meldung vom Rücktritt des Verteidigungsministers mit freudiger Genugtuung aufnahm. „Man sieht sich im Leben immer zwei Mal“, warnte damals CSU-Chef Horst Seehofer. Dass der Bildungsministerin nun ebenfalls ein Plagiat vorgeworfen wird, erfüllt nicht wenige CSUler mit gewisser Schadenfreude. Noch feiern sie ihren Triumph still, denn noch hält die Kanzlerin ihre Hand schützend über Schavan. Aber das muss nichts heißen. Auch bei Guttenberg stellte sich Merkel erst schützend hinter ihn – und zwei Wochen später trat er doch zurück. Bei Schavan, so unken nicht wenige in Berlin, könne es möglicherweise schneller gehen.
Der Fall Schavan
Vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf will Annette Schavan gegen den Entzug des Doktortitels klagen. In einer Erklärung der Anwaltskanzlei Redeker/Sellner/Dahs heißt es unter anderem: „Die Entscheidung ist in einem fehlerhaften Verfahren zustande gekommen und sie ist auch materiell rechtswidrig. Die gesetzlich vorgeschriebene Vertraulichkeit des Verwaltungsverfahrens wurde durch mehrfache selektive Information der Öffentlichkeit verletzt. Die gebotenen Ermittlungen zur Feststellung einer Täuschung der Gutachter im damaligen Promotionsverfahren sind unterblieben. Förmlich gestellte Beweisanträge, die sich darauf beziehen, wurden übergangen. Das gilt beispielsweise auch für den Antrag auf Einholung eines externen Fachgutachtens. Eine Täuschung hat es nicht gegeben. Die Entscheidung ist auch unverhältnismäßig. Die gemessen am Umfang der Doktorarbeit und ihrer Literaturnachweise geringfügige Zahl behaupteter Zitierverstöße, die sich zudem fast alle im referierenden Teil der Arbeit befinden, rechtfertigen die Rücknahme der Promotion und damit des einzigen berufsqualifizierenden Abschlusses unserer Mandantin nicht.“
Für den Deutschen Hochschulverband ist es nach den Worten seines Präsidenten Bernhard Kempen „sehr schwer vorstellbar“, dass Bundesbildungsministerin Annette Schavan nicht zurücktritt. Schavan sollte die Entscheidung der Universität Düsseldorf „zunächst als Faktum“ akzeptieren, sagte Kempen am Mittwoch. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es klug wäre, unter diesen Umständen weiter im Amt zu bleiben.“ Der Hochschulverband ist die Berufsorganisation von über 27 000 Universitätsprofessoren in Deutschland. Kempen sagte weiter, der Fall Schavan sei auch „eine Schlappe für die Universität“. Hinweise, dass man Arbeiten früher ohne die heutigen technischen Möglichkeiten schlechter kontrollieren konnte, seien „keine Entschuldigung – allenfalls eine Erklärung“.
Plagiatsvorwürfe haben schon manchen Politiker in Bedrängnis gebracht. Ein Rückblick:
Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU): Die Vorwürfe gegen den Bundesverteidigungsminister werden am 16. Februar 2011 öffentlich. Schon sieben Tage später entzieht ihm die Uni Bayreuth den Titel. Er hatte gravierende Fehler eingeräumt und selbst um die Aberkennung gebeten. Am 1. März tritt der Minister zurück.
Silvana Koch-Mehrin (FDP): Die Universität Heidelberg erfährt am 11. April 2011 von den Vorwürfen gegen die Europa-Politikerin. Am 15. Juni 2011 teilt die Uni mit, Teile der Doktorarbeit seien abgeschrieben, Koch-Mehrin müsse ihren Titel abgeben.
Jorgo Chatzimarkakis (FDP): Kurz nach der ersten öffentlichen Kritik bittet der Europa-Politiker die Universität Bonn Mitte Mai 2011 um Überprüfung seiner Dissertation. Die Doktorwürde werde ihm aberkannt, erklärt die Hochschule am 13. Juli 2011.
Bernd Althusmann (CDU): Der bisherige niedersächsische Kultusminister wird dagegen Ende 2011 vom Plagiatsverdacht entlastet. Die Uni Potsdam sah in seiner Dissertation zwar viele formale Mängel, aber kein wissenschaftliches Fehlverhalten.