Vermummte Kämpfer ukrainischer Regierungseinheiten und Panzerfahrzeuge rücken in der Ostukraine gegen prorussische Kräfte vor. Mindestens fünf Tote – „ausgelöschte Terroristen“, wie Kiew sie nennt – so lautet die Bilanz dieses blutigen Donnerstags in der von moskautreuen Aktivisten kontrollierten Stadt Slawjansk.
Es sind die bisher größten Gewaltexzesse im Machtkonflikt in der Ex-Sowjetrepublik. Auch das russische Staatsfernsehen zeigt sie in einem fort, Bilder wie aus einem Bürgerkrieg: Kampfhubschrauber über der Stadt, in Flammen stehende oder rußgeschwärzte Barrikaden aus Reifen, Rauchschwaden und bis an die Zähne bewaffnete Uniformierte. Lange dürfte sich Russlands Präsident Wladimir Putin das Chaos im russischsprachigen Osten der Ukraine nicht mehr ansehen.
Ein ernstes Verbrechen sei es, wenn eine nicht einmal gewählte Führung das Militär gegen das eigene Volk einsetze, meint der russische Präsident in St. Petersburg. Putin hat immer wieder betont, dass die neuen Machthaber in Kiew nach dem Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch lieber den Dialog mit den prorussischen Kräften suchen sollten, um gemeinsam über die Zukunft des Landes zu sprechen. Er wirft ihnen aber inzwischen vor, völlig verrückt geworden zu sein, mit Kanonen und Panzern gegen friedliche Menschen vorzugehen.
Die prorussischen Kräfte in Slawjansk im Gebiet Donezk – einige schwer bewaffnet und extrem gewaltbereit – fordern weitgehende Autonomierechte für die Region. Doch statt zu verhandeln, lässt der von der EU und den USA hofierte Regierungschef Arseni Jazenjuk im fernen Kiew zurzeit der Eskalation ihren Lauf. Die Lage verschärft sich von Tag zu Tag.
Als Antwort und zunächst wohl nur zur Abschreckung für Kiew, lässt Putin nun auch sein an der Grenze bereits seit langem verstärktes Militär in Bewegung setzen. Noch nicht für einen Einsatz zum Schutz russischer Bürger, für die er seit März die parlamentarische Vollmacht hat, sondern übungsweise.
Bei dem Militärmanöver mit Übungsflügen sollten sich die russischen Streitkräfte einen Überblick verschaffen über die Lage im Grenzgebiet, sagt Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Und er fordert von Kiew, die „Kriegsmaschine“ zu stoppen, ansonsten werde es viele Tote und Verletzte geben. Die prorussischen Kräfte warnen vor einem Bürgerkrieg. Der „Volksbürgermeister“ der Stadt Slawjansk, Wjatscheslaw Ponomarjow, droht den Angreifern im Interview des russischen Staatsfernsehens: „Wir bereiten ihnen ein zweites Stalingrad.“
Mit dem Militäreinsatz will Kiews Regierung die Lage einen Monat vor der Abstimmung weitgehend stabilisieren. In den Städten im Raum Donezk und Lugansk hätten „Verbrecher“ öffentliche Gebäude besetzt, Menschen umgebracht und gefoltert und Geiseln genommen, heißt es zur Rechtfertigung. Die Bevölkerung müsse endlich befreit werden von diesen Belagerern, sagt ein Geheimdienstmitarbeiter in Kiew. Es werde alles dafür getan, damit Kinder bald wieder zur Schule gehen, Behörden und Unternehmen wieder ihre Arbeit aufnehmen könnten.
Ereignisse im Überblick
Säbelrasseln: Kreml-Chef Wladimir Putin nennt den Armee-Einsatz der Ukraine ein Verbrechen. US-Präsident Obama bereitet Sanktionen gegen Moskau vor. Die ersten von 600 ins Manöver ins Baltikum und nach Polen geschickten US-Soldaten treffen ein.
Solidarität: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und sein französischer Kollege Laurent Fabius versichern in Georgien Tiflis ihre Solidarität. Bis Ende Juni soll die EU ein Assoziierungsabkommen mit dem Land unterzeichnen, das 2008 Krieg gegen Russland um die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien geführt hatte.
Offene Rechnungen: Der russische Gazprom-Konzern stellt der Ukraine für unerfüllte Verträge 11,388 Milliarden US-Dollar in Rechnung. Exportstopp: Die Bundesregierung genehmigt derzeit keine Rüstungsexporte nach Russland. Bis Ende März lagen 69 Anträge im Wert von 5,18 Millionen Euro vor. Text: dpa