Der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, hält Russland trotz Ukrainekrise und angespannter innenpolitischer Lage weiterhin für einen unverzichtbaren Partner des Westens. Deutschland trage aufgrund der gemeinsamen Geschichte eine besondere Verantwortung gegenüber Russland.
Gernot Erler: Es gibt eine große Betroffenheit, und mit einem Verzögerungseffekt ist diese nach meiner Beobachtung auch bei der politischen Führungsspitze angekommen. Wir haben am Anfang von dem Kremlsprecher eine eher unbeteiligte und technokratische Reaktion erlebt. Später gab es dann aber doch Beileidstelegramme von Wladimir Putin und Dmitri Medwedew, die Produkt einer sichtbaren Sorge sind: Diese Unklarheit darüber, aus welcher Ecke der Anschlag kam, hat zu einer Verunsicherung geführt. Der Zusammenhang zwischen dem Mord und dieser aggressiven Stimmung im Land ist greifbar. Sie ist aggressiv gegen alle, die den Kurs von Putin kritisieren oder gar eine andere Meinung zum Ukrainekonflikt haben. Diese Stimmung geht auf Putins Rede vom 18. März letzten Jahres zurück. Alle diejenigen, die seinen Kurs kritisierten, hat er im Georgsaal des Kreml als Nationalverräter, als Vaterlandsverräter abgestempelt. Je angespannter die Situation in Russland wird, desto leichter könnten das gerade nationalistische rechte Kräfte als Aufforderung verstehen, gegen diese Verräter vorzugehen.
Erler: Das ist zumindest eine Hoffnung. Denn diese Polarisierung stellt eine Gefahr für das ganze russische Leben dar. Sie ermutigt radikale Kräfte. Was die machen, hat auch der Kreml nicht vollkommen unter Kontrolle. Ich habe den Eindruck, dass die Verantwortungsübernahme für die Untersuchung dieses Falls durch Putin ernst gemeint ist als Zeichen: Wer immer gedacht hat, er handelt in meinem Sinne, hat sich getäuscht und wir wollen die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Leider haben wir in der Vergangenheit unsere Erfahrungen gemacht. Es ist ja leider bei Weitem nicht der erste Fall, dass eine kritische Stimme der Opposition mit dem Leben büßt. Es gab immer wieder Fälle, bei denen irgendwelche Attentäter dingfest gemacht worden sind, aber die Hintermänner verborgen blieben.
Erler: Meine Grundhaltung, dass Russland ein unverzichtbarer Partner für den Westen auch in Zukunft bleiben wird und dass Deutschland als Nachbar und aufgrund unserer gemeinsamen Geschichte eine besondere Verantwortung trägt, an dieser Haltung hat sich nichts geändert. Aber meine Partner haben sich geändert. Es ist sehr viel schwieriger geworden, mit ihnen zu kommunizieren. Ich sehe, wie stark der Einfluss der allgegenwärtigen Propaganda ist. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, selbst die Gesprächspartner aus Russland werden Opfer dieser Propaganda. Das macht den Dialog sehr viel schwieriger als er vorher war. Aber am Ende muss man feststellen, dass es zu diesem Dialog keine vernünftige Alternative gibt. Deswegen begrüße ich es, dass es für die Bundesregierung im Ukraine-Konflikt nur eine diplomatisch-politische Lösung gibt und dass eine militärische Lösung ausscheidet. Ich kann nur hoffen, dass es bei dieser Festlegung bleibt.
Erler: Das tut die Bundeskanzlerin, das tut der ukrainische Präsident, der französische Präsident. Ohne diese Gespräche hätten wir gar keine Basis, hätten wir gar keine Chance auf eine diplomatisch-politische Lösung des Konflikts. Wenn es uns nicht gelingt, Fortschritte in diesem Dialog zu erreichen, dann bekommen diejenigen Oberwasser, die auf eine militärische Lösung setzen. Das würde auf einen Stellvertreterkrieg mit vielen vor allem ukrainischen Opfern hinauslaufen.
Erler: Wir hören jeden Tag Bekundungen, dass man an einer friedlichen Lösung interessiert sei. Im Moment berichten uns die professionellen OSZE-Beobachter von Rückflussbewegungen schwerer Waffen. Daraus erwachsen Hoffnungen und Erwartungen, die aber schon morgen wieder enttäuscht werden können. Das ist leider unsere Erfahrung mit diesem Konflikt.
Erler: Ja, die so genannte Eskalationsdominanz liegt eindeutig auf der russischen Seite. Die EU kann sich auf eine politische Lösung festlegen, aber Wladimir Putin hat es in der Hand, seine Schützlinge unter den Separatisten dazu zu bewegen, wieder militärisch vorzugehen. Das haben wir mehrfach erlebt in der Vergangenheit. Diese Eskalationsdominanz macht die westliche Seite ein Stück weit abhängig von einem konstruktiven Verhalten der russischen Führung. Trotzdem bin ich froh, dass die Bundeskanzlerin und der deutsche Außenminister mehrfach betont haben, dass es keine militärische Alternative gibt. In Wirklichkeit besteht die ohnehin nicht, Putin würde durchaus bis zum offenen militärischen Eingreifen gehen, wenn die Gefahr bestünde, dass die Separatisten von der ukrainischen Armee besiegt werden.
Erler: Darüber wird viel gerätselt. Wir haben keine klare Ansage von russischer Seite, auch nicht über die Ziele in der Ostukraine. Das ist beunruhigend. Die russische Politik ist unkalkulierbar: Soll es noch eine Annexion geben, soll es einen Pufferstaat geben, soll es einen eingefrorener Konflikt geben, den man zur Einflussnahme nutzen kann? Vielleicht erzeugt Wladimir Putin diese Unsicherheit des Westens sogar bewusst. Das macht die Rückkehr zu einer partnerschaftlichen Lösung des Konflikts sehr schwierig.
Gernot Erler
Der SPD-Politiker Gernot Erler, Jahrgang 1944, wurde in Meißen geboren. Er ist seit 1987 Mitglied des Deutschen Bundestages und war von 2005 bis 2009 Staatsminister beim Bundesminister des Auswärtigen. Seit Januar 2014 ist er Russland-Beauftragter (offizieller Titel: Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, Zentralasien und den Ländern der Östlichen Partnerschaft) der deutschen Bundesregierung. Gernot Erler ist verheiratet und Vater einer Tochter. FOTO: P. Seeger, dpa