„Zu zerstören ist leicht, aber es ist schwierig, wieder aufzubauen“ – das waren die letzten Worte des russischen Botschafters Sergej Karlow bei seiner Rede zur Eröffnung einer Fotoausstellung in Ankara am Montagabend, eine Anspielung auf die jüngsten Höhen und Tiefen in den russisch-türkischen Beziehungen. Dann trafen ihn die Schüsse des Attentäters in den Rücken.
Nach dem Mord an dem Diplomaten gab das russische Außenministerium zwar eine Warnung vor Türkeireisen heraus; die Türkei und Russland sind aber bemüht, neue Spannungen zu vermeiden. Das Attentat soll die nach einer sechsmonatigen Eiszeit erst im Sommer reparierten bilateralen Beziehungen nicht belasten. Präsident Recep Tayyip Erdogan telefonierte noch am Montagabend mit Kremlchef Wladimir Putin. „Wir stimmen darin überein, dass dies eine Provokation ist“, sagte Erdogan nach dem Telefonat. „Wir haben uns darauf verständigt, unsere Solidarität zu stärken.“
Der Attentäter war ein 22-jähriger Polizist, der sich mit seinem Dienstausweis Zutritt zu der Ausstellungseröffnung verschafft hatte. Er flüchtete nach den tödlichen Schüssen zunächst in den zweiten Stock des Gebäudes. Nach einem 15-minütigen Schusswechsel mit der Polizei wurde er getötet.
Die Ermittler versuchen nun, die Beweggründe und die Verbindungen des Attentäters auszuleuchten. Sein Motiv war offenbar Russlands Kriegseinsatz in Syrien und die Eroberung Aleppos, an der Russland maßgeblichen Anteil hatte. Der Mann habe „Allahu Akbar“ und „Vergesst nicht Aleppo, vergesst nicht Syrien“ gerufen, berichteten Augenzeugen. Unmittelbar nach den Schüssen soll er auf Arabisch ausgerufen haben: „Wir sind es, die dem Propheten Mohammed Gefolgschaft und dem Dschihad Hingabe schwören.“ Denkbar ist ein islamistischer oder nationalistischer Hintergrund. Regierungsnahe türkische Medien spekulierten auch über mögliche Verbindungen zum Netzwerk des Erdogan-Erzfeindes Fethullah Gülen.
Sechs Verdächtige, darunter vier Verwandte des Attentäters, wurden festgenommen. „Wir müssen wissen, wer die Hand des Mörders führte“, sagte der russische Präsident Putin in Moskau. Russland entsandte am Dienstag ein 18-köpfiges Ermittlerteam nach Ankara. Darauf hatten sich Erdogan und Putin telefonisch verständigt.
Im November 2015 hatte der Abschuss eines russischen Bombers durch die türkische Luftwaffe für schwere Spannungen zwischen Moskau und Ankara gesorgt. Putin verhängte Sanktionen. Seit dem Sommer 2016 haben sich beide Länder wieder angenähert.
Für die Türkei ist Russland ein wichtiger Handelspartner. Umgekehrt braucht Moskau die Türkei als Transitland für Gasexporte nach Europa. Beide Länder sind im Syrienkrieg militärisch engagiert, wenn auch mit unterschiedlichen Zielrichtungen: Während die Türkei auf den Sturz Baschar al-Assads hinarbeitet, ist Russland der wichtigste Verbündete des Regimes in Damaskus.
Trotz dieser Differenzen und ungeachtet des Attentats scheinen beide Länder entschlossen, an der Normalisierung ihrer Beziehungen festzuhalten – an der gerade Karlow als Russlands Chefdiplomat in Ankara intensiv gearbeitet hatte. Man werde nicht zulassen, dass der Mord „einen Schatten auf die russisch-türkische Freundschaft wirft“, erklärte das türkische Außenministerium. Ein für Dienstag geplantes Syrien-Treffen der Außen- und Verteidigungsminister der Türkei, des Iran und Russlands in Moskau fand wie geplant statt. Mit der Konferenz unterstreicht Russland seine Rolle als Großmacht im Syrienkonflikt, und auch die Türkei dokumentiert mit ihrer Teilnahme ihren Anspruch auf Mitsprache in der Syrienfrage.
Wenige Stunden nach dem Attentat auf Karlow ereignete sich in Ankara ein weiterer Zwischenfall: Gegen 3.50 Uhr bewegte sich ein Mann auf den Haupteingang der US-Botschaft am Atatürk Boulevard zu, zog eine Waffe aus seinem Mantel und feuerte mehrere Schüsse ab. Niemand wurde verletzt, die Polizei nahm den Mann in Gewahrsam. Nach den Schüssen blieben die US-Botschaft sowie die Konsulate der USA in Istanbul und Adana am Dienstag geschlossen.