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ISTANBUL
Rückt die Türkei von harter Linie ab?
Susanne Güsten
 |  aktualisiert: 15.11.2017 13:43 Uhr

In der Türkei deutet sich ein Abrücken von der bisherigen harten Linie bei der Verfolgung Andersdenkender und Regierungskritiker an. Nach einem Urteil des Berufungsgerichts, das regierungstreuen Richtern und Staatsanwälten erstmals Grenzen setzt, werden laut Presseberichten „wichtige Veränderungen“ in der Justiz erwartet. Auch ein informelles Treffen des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu mit seinem deutschen Kollegen Sigmar Gabriel am Wochenende in Antalya gehört zu den Signalen, die auf ein Ende der kompromisslosen Haltung Ankaras hindeuten.

Schleppnetz-Taktik

Die Entlassung von 150 000 Staatsbediensteten und die Inhaftierung von mehr als 50 000 Verdächtigen seit dem Putschversuch des vergangenen Jahres wird nicht nur im westlichen Ausland, sondern auch in der Türkei immer lauter kritisiert. Bisher argumentierte Ankara, bei der Suche nach den Schuldigen des Umsturzversuches werde eine Art Schleppnetz-Taktik angewendet, bei der vorübergehend mehr Menschen in die Fänge der Justiz geraten, als am Ende rechtskräftig verurteilt werden. Doch diese Haltung gerät immer mehr unter Druck.

Inzwischen reiche in der Türkei eine Denunziation durch einen anonymen Anrufer oder durch die Regierungspresse, um in Haft zu kommen, kritisierte der Kolumnist Murat Yetkin in der „Hürriyet“. Dabei bestehe das einzige Vergehen vieler Beschuldigter wie des kürzlich verhafteten Geschäftsmannes und Kulturmäzens Osman Kavala darin, dass sie anders seien, als die Regierung sich das wünsche.

Als Aufrührer beschimpft

Zuletzt hatte das Verfahren gegen den Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner und zehn weitere Aktivisten die Zweifel an der Justiz verstärkt: Die Beschuldigten wurden über Monate unter schwersten Vorwürfen staatsfeindlicher Aktivitäten in Haft gehalten und von der regierungsnahen Presse als Aufrührer beschimpft, dann aber angesichts der offensichtlich absurden Vorwürfe gleich am ersten Verhandlungstag freigelassen.

Nun deutet sich an, dass in der türkischen Justiz ein Umdenken einsetzt. Der Oberste Berufungsgerichtshof setzte den Behörden vorige Woche in einem Grundsatzurteil klare Grenzen für die Verfolgung mutmaßlicher Putschanhänger. Demnach müssen Staatsanwälte und Richter konkrete Beweise für eine Mitgliedschaft eines Verdächtigen in der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorlegen, die für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird. In dem vorliegenden Fall war ein Mann unter anderem deshalb zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil er eine zur Gülen-Bewegung gehörende Zeitung abonniert hatte. Das reiche nicht für eine Verurteilung, entschieden die Berufungsrichter. Der Mann wurde freigelassen.

Fragwürdige Beweise

Einige Kommentatoren rechnen nun damit, dass jetzt weitere Freilassungen folgen, weil viele mutmaßliche Regierungsgegner in den vergangenen anderthalb Jahren auf der Basis ähnlich fragwürdiger Beweise in Haft gekommen sind.

Zugleich soll Ministerpräsident Binali Yildirim im Kabinett gesagt haben, der Ausnahmezustand, der die Verfolgung angeblicher Regierungskritiker erheblich erleichtert, erschwere den Normalbürgern das Leben und schade dem Image der Türkei im Ausland. „Das sind gute Nachrichten“, kommentierte der türkische Journalist Fehmi Koru, ein ehemaliger Anhänger von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, der sich seit einigen Jahren aber von der Regierung in Ankara distanziert.

Auch bei den rund 150 inhaftierten Journalisten, darunter auch der deutsch-türkische Reporter Deniz Yücel, zeichnen sich Erleichterungen ab. Der „Hürriyet“-Journalist Abdülkadir Selvi, der für seine exzellenten Kontakte zu der Regierung in Ankara bekannt ist, schrieb kürzlich, das „Klima“ hinsichtlich der inhaftierten Journalisten und Intellektuellen wandele sich. „In der Justiz spielen sich wichtige Veränderungen ab“, betonte Selvi. „Es werden Schritte hin zur Normalisierung eingeleitet.“ Details könne er noch nicht nennen.

Haft ohne Urteil

Möglicherweise hängt die Entwicklung auch mit anstehenden Urteilen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes zusammen, die in den kommenden Wochen erwartet werden und an die sich die Türkei als Mitglied des Europarates halten muss. Den Straßburger Richtern liegen Klagen von Yücel und mehrerer inhaftierter Journalisten der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ vor. Allgemein wird mit Urteilen zugunsten der Journalisten gerechnet, die zum Teil seit mehr als einem Jahr ohne Urteil in Haft sitzen; bei Yücel gibt es nicht einmal eine Anklageschrift.

 
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