zurück
BERLIN
Rolle rückwärts bei Meldegesetz
Selbst die Bundesregierung geht beim Meldegesetz auf Distanz zum Beschluss im Bundestag. Die CSU hält auf einmal nichts mehr von der Neufassung, obwohl ihr Innenexperte sie mit durchgesetzt hat.
Von unserem Korrespondenten Martin Ferber
 |  aktualisiert: 20.03.2018 09:03 Uhr

Es war Donnerstag, der 28. Juni, um 20.51 Uhr. Die ganze Nation saß vor den Fernsehgeräten, um das mit Spannung erwartete Halbfinale bei der Fußball-Europameisterschaft zwischen Deutschland und Italien zu verfolgen. Nur im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes musste ein kleines Häuflein an Bundestagsabgeordneten ausharren, es lief seit neun Uhr morgens die 187. Sitzung des Parlaments in dieser Legislaturperiode, die vorletzte Sitzung vor der Sommerpause. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau von der Linkspartei rief den Tagesordnungspunkt 21 auf, „zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Meldewesens“, Bundestags-Drucksache 17/7746.

Danach ging es ganz schnell. Eine Aussprache fand nicht statt, eine Debatte gab es nicht, die Berichterstatter der einzelnen Fraktionen gaben ihre Reden zu Protokoll, Pau konnte unverzüglich zur Abstimmung kommen. Mit ihrer Mehrheit winkten 17 Parlamentarier von CDU, CSU und FDP den Gesetzentwurf durch, zehn Abgeordnete von SPD, Grüne und Linke stimmten mit Nein. Nach nicht einmal einer Minute war der Tagesordnungspunkt abgehakt, es lief die siebte Minute im EM-Halbfinale.

Eigentlich ein Routinevorgang. Dass ein spärlich besetztes Parlament Gesetze ohne Debatten verabschiedet, weil die Experten aller Fraktionen ihre Beiträge zu Protokoll geben, ist weder neu noch ungewöhnlich. In diesem Falle aber sorgte das schnelle Durchwinken für erheblichen Ärger. Mit eineinhalb Wochen Verspätung wurde nämlich bekannt, was die Abgeordneten der schwarz-gelben Koalition mit ihrer Mehrheit im Schatten des EM-Halbfinales beschlossen hatten: Die Städte und Gemeinden erhalten das Recht, die Meldedaten ihrer Bürger an Adresshändler, die Werbewirtschaft oder andere Unternehmen zu verkaufen. Selbst dann, wenn die Bürger bei der Meldebehörde Widerspruch dagegen eingelegt haben, sollte das möglich sein, nämlich dann, wenn es nur um eine Bestätigung oder Berichtigung von bereits vorhandenen Daten geht.

Die Opposition und die Datenschützer liefen Sturm gegen das neue Gesetz, und selbst die Regierung ging am Montag in einem ungewöhnlichen Schritt auf förmliche Distanz zu dem Beschluss der eigenen Koalition im Bundestag. Denn im ursprünglichen Gesetzentwurf vom 2. September 2011 hatte Innenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU das genaue Gegenteil vorgesehen. Den Einwohnermeldeämtern sollte es verboten werden, mit den Grunddaten der Bürger – Name, akademische Titel und Adresse – Handel zu treiben, es sei denn, die Bürger hätten der Weitergebe ausdrücklich zugestimmt. So sollte den Bestimmungen des Datenschutzes Rechnung getragen werden. Doch in den Beratungen des Innenausschusses des Bundestags setzten sich die Lobbyisten der Werbewirtschaft und des Adresshandels durch. Auf Betreiben des CSU-Abgeordneten Hans-Peter Uhl und seiner FDP-Kollegin Gisela Piltz wurde der Entwurfs des Kabinetts an einer entscheidenden Stelle geändert: Nun erhielten die Kommunen das Recht, die Daten zu verkaufen, es sei denn, die Bürger haben dagegen Widerspruch eingelegt. Und wenn eine Firma die Daten schon hat, nützt selbst dieser Widerspruch nichts, ein Abgleich der Daten ist weiterhin möglich.

Doch die Lobbyisten hatten sich wohl zu früh gefreut. SPD und Grüne kündigten bereits am Wochenende an, das neue Meldegesetz im Bundesrat zu Fall zu bringen. Und, besonders pikant, auch die CSU, die maßgeblich für die Neuformulierung des Meldegesetzes gesorgt hatte, wollte plötzlich nichts mehr von ihren eigenen Änderungen wissen und nahm eine Rolle rückwärts vor.

CSU-Chef Horst Seehofer distanzierte sich von dem Bundestagsbeschluss und kündigte an, im Bundesrat ebenfalls mit Nein zu stimmen, er könne sich gar nicht vorstellen, wie dieses Gesetz in der beschlossenen Form im Parlament zustande gekommen sei, sagte er in München. Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner, ebenfalls CSU, erklärte, die Änderungen seien nicht mit der Bundesregierung abgesprochen gewesen. Und auch Innenminister Hans-Peter Friedrich von der CSU, der am Morgen das Gesetz noch als eine Verbesserung gegenüber der bisher geltenden Rechtslage in den Ländern pries, sagte nach Beratungen des CSU-Vorstands in München, er gehe davon aus, dass der Bundesrat das Gesetz zumindest in Teilen wieder entschärft.

Beschlussfähigkeit des Bundestages

Paragraf 45 der Geschäftsordnung legt fest: Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal sind. Derzeit gibt es 620 Abgeordnete, 311 müssten also mindestens anwesend sein. Bei der Abstimmung zum Meldegesetz am Abend des 28. Juni waren die Reihen wie auch sonst manchmal weitgehend leer. Die Beschlussunfähigkeit wurde aber nicht offiziell bezweifelt, weshalb die Abstimmung gültig ist. Die Beschlussfähigkeit kann im Zusammenhang mit den Abstimmungen festgestellt werden, indem die Stimmen gezählt werden. Abgestimmt wird auf drei Arten: mit Handzeichen oder mit Aufstehen an den Plätzen, dem „Hammelsprung“ genannten Gang durch drei Türen (für Ja, Nein und Enthaltung) oder mit namentlicher Abstimmung. Einer statistischen Übersicht zufolge wurde in der vergangenen Legislaturperiode (2005-2009) in vier Fällen die Beschlussfähigkeit bezweifelt. Dabei wurde in zwei Fällen die Beschlussunfähigkeit festgestellt. Erst vor kurzem hatte die Opposition durch bewusstes Wegbleiben ihrer Abgeordneten eine Beschlussunfähigkeit herbeigeführt und so eine Befassung mit dem Betreuungsgeld verhindert.

 
Themen & Autoren / Autorinnen
CDU
CSU
Deutscher Bundesrat
Deutscher Bundestag
FDP
Gisela Piltz
Horst Seehofer
Ilse Aigner
Petra Pau
Regierungseinrichtungen der Bundesrepublik Deutschland
SPD
Werbebranche
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen