G ist das Formelzeichen für die Gravitationskraft, und wer nach dem Physikunterricht in der achten Klasse glaubte, nie wieder etwas damit zu tun zu haben, der irrt. Beim Benutzen einer Loopingrutsche in einem Spaßbad können bis zu drei G auf den Badegast einwirken, es drückt also das Dreifache des eigenen Körpergewichtes auf den Rutschenden. Wer sich da nicht an die Regeln hält, verletzt sich schnell. Doch auch bei kleineren Modellen kann es sonst zu Unfällen kommen. Christina Dörr aus Ochsenfurt ist genau das passiert: Sie besuchte das Freizeitbad „Kristall Palm Beach“ in Stein (nahe Nürnberg), verunglückte dort in einer Rutsche und verletzte sich an der Wirbelsäule.
Um die Gefahr von Unfällen im Vorhinein zu verringern, unterliegen Wasserrutschen in Deutschland strengen Richtlinien. Die Rutschenprüfer, die durch die Schwimm- und Spaßbäder gehen, haben immer zwei Dinge dabei: eine Badehose und einen großen Stapel Papier. Vor der ersten Inbetriebnahme kontrollieren sie die Wasserrutschen – und in regelmäßigen Abständen danach. „So ist es Vorschrift und so wird es auch eingehalten“, sagt Thomas Oberst vom TÜV Süd. In dem Stapel Papier sind die Vorgaben festgehalten. Die Badehose braucht der Prüfer zum Rutschen, denn nur so „kann er sich einen Eindruck davon verschaffen, wie die Rutsche tatsächlich ist.“
Der TÜV ist nur einer von vielen Dienstleistern, die Rutschen überprüfen dürfen. Auch Mitarbeiter von Ingenieurbüros mit ausreichenden Fachkenntnissen dürfen die Rutschen abnehmen, so Oberst.
Die Kontrolleure schauen unter anderem nach der Standhaftigkeit der Rutschen, nach ihrer Verarbeitung und ob die Übergänge zwischen den einzelnen Bauteilen in Ordnung sind. Ist die Rutsche von außen und von innen glatt? Kann sie für alle Alters- und Gewichtsklassen zugelassen werden? Wie wirkt sich der Kontakt mit Chlorwasser auf das Material aus? „Jede Rutsche ist eine einmalige Anfertigung an die spezielle Situation vor Ort“, sagt Oberst. Deswegen würden Rutschen immer doppelt kontrolliert. „Der Hersteller legt bestimmte Intervalle fest, in denen ein Mitarbeiter eine Rutsche prüfen muss. Zusätzlich gibt es eine unabhängige Kontrolle, etwa durch den TÜV.“
Christina Dörr wird so schnell nicht wieder rutschen können. Am 26. Mai benutze die 19-Jährige die Rutsche „Super Nova“. Laut der Beschreibung auf der Internetseite des Spaßbades rutscht „man mit einem Reifen in eine geschlossene Kugel“, verliert dort an Geschwindigkeit und „wird dann in einem Tunnel zum Weiterrutschen aufgefangen.“ Christina Dörr hat in dieser Kugel jedoch ihren Reifen verloren. „Der Reifen ist hängen geblieben und ich bin unter Schmerzen auf dem Rücken weitergerutscht“, sagt Dörr. Sie habe keine Möglichkeit gehabt, sich festzuhalten. Die Folge: ein gebrochener Lendenwirbel, zwei Operationen und dreieinhalb Wochen Krankenhausaufenthalt.
Rutschen bedeute für die meisten Menschen Spaß und Bewegungsfreude, erklärt Renate Freericks, Leiterin des Studienganges angewandte Freizeitwissenschaft an der Hochschule Bremen. „Den ganzen Tag sitzen wir auf unseren Büro- oder Schulstühlen und müssen brav sein. Klar, dass wir uns da irgendwann abreagieren und unsere Energie rauslassen wollen.“ Beim Rutschen gehe das besonders gut. Gefahren sieht sie dabei nicht – vorausgesetzt man hält sich an die Regeln. Der besondere Reiz beim Rutschen sei, dass man ein gewisses Risiko unter einem Sicherheitsaspekt eingehe. Die Geschwindigkeit vermittle das Gefühl eines Wagnisses, der Rutschende gehe jedoch nicht davon aus, sich zu verletzen.
Rolf Allerdissen, Vorsitzender des deutschen Rutschenverbandes, bestätigt dies: „Die Rutschen sind gewissenhaft konstruiert und überprüft. Hält man die Regeln ein, passiert nichts.“ Auf die Frage, warum denn trotzdem immer wieder Unfälle geschehen, hat Allerdissen eine einfache Antwort: „Die Anarchie auf deutschen Rutschen ist schlimmer als die auf deutschen Autobahnen.“ Das heißt: Badegäste rutschen ohne hinzuschauen, halten nicht die vorgeschriebene Position ein oder rutschen zu schnell nach ihrem Vorgänger.
Dass da nicht mehr passiert, ist einfach Glückssache, meint auch Caroline Zimmermann. Sie ist Beauftrage der Wasserwacht für Unterfranken und sagt: „In Spaßbädern haben die Sicherheitsmaßnahmen zugenommen. Uns sind keine größeren Unfälle bekannt. Rutschen ist Spaß. Hält man sich an die Regeln, geht davon kaum eine Gefährdung aus.“ Die Bademeister vor Ort würden jedoch häufig beobachten, wie Badegäste beim Rutschen Ketten bilden oder wie der Auslaufbereich nicht richtig freigemacht wird. „Es herrscht Chaos auf den Rutschen“, sagt Zimmermann, und das auch in Unterfranken, obwohl die verfügbaren Modelle hier eher klein seien.
Thomas Oberst vom TÜV Süd sieht dieses Problem ebenfalls. Er sagt, dass Rutschen als Sport- und Freizeitgeräte definiert sind nach der Norm DIN EN 1069-1. Und laut dieser Norm „schließt die Benutzung von Wasserrutschen Risiken wie Herausfallen aus der Rutsche, Zusammenstöße, Stürze, Verbrennungen und Fangstellen ein.“ Damit all das möglichst nicht passiert, werden Hinweisschilder mit Anforderungen an den Rutschen angebracht, an die die Badegäste sich zu halten haben.
Und genau diese Anforderungen werden eben immer wieder missachtet, sagt Allerdissen vom deutschen Rutschverband. „Man könnte meinen, die Menschen können nicht lesen.“ Er selbst ist 1987 das erste Mal gerutscht und 2007 norddeutscher Vizemeister geworden. Regelmäßig veranstaltet der Rutschenverband Wettbewerbe, um diesen Sport zu fördern. „Bei den Sportrutschern gab es in den vergangenen Jahren keine Knochenbrüche oder schlimmere Verletzungen.“ Blaue Flecken ja, das räumt er ein, mehr sei aber nicht passiert. Und wieder betont er: „Fast alle Unfälle sind auf ein Fehlverhalten beim Rutschen zurückzuführen.“ Manchmal könne der Verletzte selbst gar nichts dafür. „Rutscht mein Hintermann zu schnell und wartet die Rotphase der Ampel nicht ab, kann ich selbst nichts machen“, sagt Allerdissen.
Bei Christina Dörr ist genau das das Problem. Ihr Freund, der mit ihr das Schwimmbad besucht hat, ist nach ihr gerutscht. Er habe die Rotphase nicht abgewartet. Dörr sagt, dass ihr Freund weit weg gewesen sein muss – schließlich habe sie ihn nicht gesehen.
Die 19-Jährige hat gemeinsam mit ihrer Mutter Anzeige gegen das Spaßbad erstattet. „Die Kripo in Fürth hat ihre Ermittlungsarbeit abgeschlossen. Der Betreiber hat demnach sämtliche relevanten Sicherheitsvorkehrungen eingehalten“, sagt ihr Anwalt Marcus Münchmeier. Der Abschlussbericht der Polizei liegt nun bei der Staatsanwaltschaft. Münchmeier und seine Mandantin fordern Schadensersatz. Das Problem dabei: Christina Dörr müsste als Geschädigte den Nachweis erbringen, dass die Rutsche fehlerhaft sei. Doch dass bauliche oder technische Mängel vorhanden waren, ist schwer nachweisbar und zudem sehr teuer. „Vielleicht kann man sich ja außergerichtlich mit dem Betreiber einigen auf eine gewisse Schmerzensgeldsumme“, sagt Münchmeier.
Das Schwimmbad gibt auf Nachfrage folgendes Statement ab: „Der Freund ist bei roter Ampel der Verletzten nachgerutscht. Das zeigt die Videoüberwachung. Wir bedauern den Unfall sehr, gehen aber aufgrund des Fehlverhaltens von Eigenverschulden aus.“
Wie viele Unfälle es beim Rutschen in Unterfranken insgesamt schon gegeben hat, ist schwierig bis unmöglich herauszubekommen. Die Verbraucherzentrale Bayern hat bisher keine Erfahrungen mit dem Thema gemacht, und von den Krankenhäusern erfährt man nur, dass „in der Ambulanz der Klinik für Unfallchirurgie leider Bade-Rutschen-Unfälle nicht gesondert gekennzeichnet werden.“ Ulrike Renner-Helfmann, Sprecherin der Kommunalen Unfallversicherung Bayern, nennt als Einzige überhaupt eine Zahl: „Wir hatten im vergangenen Jahr insgesamt 85 Unfälle von Schülern in Bädern in Verbindung mit Rutschen.“ Aber die Unfallversicherung ist nur zuständig für Unfälle bei der Arbeit oder in der Schule. Freizeitunfälle werden also nicht erfasst, da sie nicht von der gesetzlichen Unfallversicherung abgedeckt sind.
Allerdissen hält Rutschen nicht nur für unbedenklich bei Einhaltung aller Regeln, er findet es sogar gesund. „Wir haben Untersuchungen gemacht, bei denen wir Rutschenden Blut abgenommen haben, vorher und nachher. Dann haben wir den Adrenalinwert gemessen.“ Das Ergebnis war eindeutig: Rutschen hat den Testern Freude bereitet und ist daher gesundheitsfördernd. Auch Freizeitforscherin Renate Freericks sieht beim Rutschen eher Vorteile: „Für die meisten ist so ein Besuch im Freizeitbad wie ein Kurzurlaub.“
Dass Rutschen dennoch ein heikles Thema bleibt, zeigt nicht nur der Unfall von Christina Dörr. Auch einer der größten Rutschenhersteller in Deutschland war zunächst nicht bereit, die Anzahl der Rutschen zu nennen, die die Firma produziert. Vor der Auskunft versicherte sich der Geschäftsführer, dass sein Name nicht im Zusammenhang mit konkreten Unfällen genannt wird. Die drei größten Hersteller in Deutschland haben insgesamt etwa 2800 Rutschen in Betrieb.