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TEHERAN
Richtungskämpfe im Staat der Mullahs
Wahlkampf: Ein Passant blickt in Karai nordwestlich von Teheran auf Plakate von Kandidaten. Im Iran wird heute ein neues Parlament gewählt.
Foto: rtr | Wahlkampf: Ein Passant blickt in Karai nordwestlich von Teheran auf Plakate von Kandidaten. Im Iran wird heute ein neues Parlament gewählt.
Von dpa-Korrespondent FARSHID MOTAHARI
 |  aktualisiert: 01.03.2012 19:33 Uhr

Am heutigen Freitag wird im Iran ein neues Parlament gewählt. Doch egal, wer die Wahlen auch gewinnt: Auswirkungen auf den Konflikt des Landes mit der Weltgemeinschaft wird die Abstimmung nicht haben. Der Atomstreit, die damit verbundenen Sanktionen und ein möglicher Militäranschlag Israels auf die iranischen Atomanlagen sind sogenannte „Staatsangelegenheiten“, bei denen das Parlament nichts zu sagen hat. Sie werden von Ajatollah Ali Chamenei, dem obersten Führer des Landes, und seinen engsten Beratern entschieden. Die verschiedenen Fraktionen streiten deshalb vor allem um die Innenpolitik.

Dennoch ist es im siebten Jahr der Präsidentschaft von Mahmud Ahmadinedschad interessant zu sehen, dass der einstige Liebling des Establishments von allen Seiten Druck bekommt. „Vor sieben Jahren hatte er im Establishment alle für, nun alle gegen sich“, kommentiert ein Politologe in Teheran die wachsende Kritik ehemaliger Weggefährten an Präsident Ahmadinedschad.

Kleriker gegen „Abweichler“

Einer der Gründe ist die neue politische Linie der Pro-Ahmadinedschad-Fraktion, die auf einmal weniger Islam und dafür mehr Nationalismus will. Diese Einstellung wird nicht nur vom konservativen Lager, sondern auch vom Klerus als Unterminierung des herrschenden islamischen Systems betrachtet. Dementsprechend gelten manchen Klerikern Anhänger dieser Fraktion als „Abweichler“, die gar die Mullahs weghaben wollen. Ahmadinedschad hält sich zwar bedeckt und schweigt „der nationalen Einheit wegen“, doch distanziert von den Vorwürfen hat er sich auch nicht.

Kritik hagelt es auch für die Wirtschaftsreformen des einst als Robin Hood der Unter- und Mittelschicht gefeierten Präsidenten. „Aus dem Robin Hood der Armen wurde eher der Sheriff von Nottingham“, so ein ausländischer Diplomat. Nach den jüngsten Sanktionen des Westens wirkten Ahmadinedschad und seine Regierung fast ratlos. In den vergangenen zwei Monaten halbierte sich der Wert der nationalen Währung Rial, die Inflationsrate ist astronomisch. „Die gegenwärtige Situation bringt das Land an den Rand des Bankrotts“, warnte der konservative Abgeordnete Ahmed Tawakoli.

Boykott der Reformer

Weit mehr als die Hälfte der 3400 Kandidaten bei der Parlamentswahl sind Konservative. Sie werden wohl, schon wegen der hohen Anzahl der Bewerber, die Wahlen gewinnen. Angeführt werden sie vom derzeitigem Parlamentspräsidenten Ali Laridschani. Der ehemalige Atom-Chefunterhändler Ahmadinedschads zählt mittlerweile zu seinen ärgsten Kritikern – und wird bereits als Nachfolger bei der Präsidentschaftswahl nächstes Jahr gehandelt.

Die Reformer um den ehemaligen Staatspräsidenten Mohammad Chatami dagegen sind zwar im Rennen, können sich für die nächste Legislaturperiode aber nicht viel Hoffnungen machen. Der harte Kern der Reformer boykottiert die Wahlen. Ihre Führer, Mir-Hossein Mussawi und Mehdi Karrubi, stehen unter Hausarrest und sind de facto politisch ausgeschaltet. Andere sitzen im Gefängnis oder haben sich aus der Politik zurückgezogen.

Das Establishment hofft auf eine hohe Beteiligung der mehr als 48 Millionen Wahlberechtigten. Die „Feinde“ des Landes wollten dies mit Hilfe des Internets jedoch verhindern, heißt es. „Über soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter wird zum Wahlboykott aufgerufen“, klagte Innenminister Mostafa-Mohammad Nadschar. Tatsächlich gibt es allein auf Facebook mehrere Seiten, auf denen zum Boykott aufgerufen wird. Rund 17 Millionen Facebook-Nutzer gibt es im Iran.

„Ich habe noch so viel zu tun, und wählen können die Herrschaften ja auch alleine“, meint die 40 Jahre alte Hausfrau Farideh aus Teheran – und spielt damit auf die angeblichen Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl 2009 an, bei der Ahmadinedschad mit deutlichem Vorsprung im Amt bestätigt wurde.

Irans politisches System

Die Machtstruktur im Iran basiert seit der islamischen Revolution von 1979 auf dem Wali-Faghih-System, der Herrschaft des Obersten Rechtsgelehrten. Laut Verfassung ist der Wali-Faghih de facto das Staatsoberhaupt und hat in politischen Belangen das letzte Wort. Nach der Revolution war das zehn Jahre lang Ajatollah Ruhollah Chomeini. Als er 1989 starb, wählte der Expertenrat Ajatollah Ali Chamenei zu seinem Nachfolger. Der Expertenrat besteht aus 86 hochrangigen Klerikern und ist das einzige Gremium des Landes, das den Führer wählen und überwachen darf. Parallel zu dem Wali-Faghih gibt es das vom Volk direkt gewählte Parlament und den Präsidenten.

Der Wächterrat, bestehend aus sechs Klerikern und sechs Rechtsexperten, prüft, ob die Beschlüsse des Parlaments islamische Kriterien erfüllen. Das Parlament mit seinen 290 Sitzen und der Präsident haben zwar legislative und exekutive Rechte, doch entscheidende politische Themen wie etwa das Atomprogramm gelten als „Staatsangelegenheiten“, die vom Führer entschieden werden müssen.

Der Sicherheitsrat des Landes spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei strategischen Entscheidungen. Mitglieder sind unter anderem der Präsident, der Parlamentspräsident, der Leiter der Judikative und Kommandeure der Armee und Revolutionswächter. Zwar leitet der Präsident diesen Rat, doch das letzte Wort hat auch hier der Führer. Text: dpa

 
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