Es kommt normalerweise nur bei einem Konklave oder einer wegweisenden Bischofssynode vor, dass die Vatikanbeobachter so zahlreich und sichtbar neugierig in den Pressesaal des Heiligen Stuhls eilen. Diesmal sind sie gekommen wegen eines kleinen Mannes mit halblangen weißen Haaren, der beim Sprechen wild gestikuliert. Gustavo Gutiérrez, Mitbegründer der umstrittenen Befreiungstheologie, ist an diesem Dienstag die Attraktion im Vatikan. Der 86 Jahre alte Dominikanerpater aus Peru ist einer der Hauptredner bei der Vollversammlung der internationalen Caritas-Organisationen.
Die Aufregung um ihn hängt mit der Geschichte der von ihm in den 1960er Jahren mit begründeten „Theologie der Befreiung“ zusammen. Nach ihr soll Kirche in erster Linie soziale Verpflichtung und Kampf gegen die Armut sein. Gutiérrez und seine Mitstreiter forderten politische Veränderungen, die manche Priester so ernst nahmen, dass sie etwa an der Sandinisten-Revolution in Nicaragua 1979 teilnahmen.
Unter Johannes Paul II. und seinem Nachfolger Benedikt XVI. wäre ein offizieller Besuch von Gutiérrez im Vatikan deshalb undenkbar gewesen. Vier Jahrzehnte lang bestimmte gegenseitiges Misstrauen die Beziehungen. Mitte der 80er Jahre kritisierte der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, die Befreiungstheologie und ihre „schweren ideologischen Verfehlungen“ scharf. Insbesondere in Europa und den USA wurde die Strömung als marxistische Ideologie verurteilt, während sie sich in Lateinamerika stark ausbreitete.
Jetzt sitzt der Protagonist in Rom und sagt: „Es ist im Moment ein günstiger Augenblick.“ Dass die Armen nun ins Zentrum der Mission der Kirche zurückgekehrt seien. Dass die Frage der Armut als wesentlich wahrgenommen werde. Franziskus sei Dank. Der war es schließlich, der von einer „armen Kirche für die Armen“ sprach und in der sozialen Frage eines der Hauptthemen seines Pontifikats ausmachte. Obwohl auch Jorge Mario Bergoglio selbst die Befreiungstheologie nicht unkritisch sieht, ist der Papst der Hauptgrund für die öffentliche Rehabilitation von Gutiérrez. Ihn empfing er bereits vor Monaten privat im Vatikan.
Das Tauwetter hat noch einen weiteren Protagonisten, den einige Beobachter wiederum in Opposition zu Papst Franziskus sehen: Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Präfekt der Glaubenskongregation. Mit Gutiérrez verbindet Müller eine langjährige Freundschaft, beide veröffentlichten 2004 gemeinsam das Buch „An der Seite der Armen“.